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Wehrt sich. Hagen Pohle sieht die Leichtathletik-Reformen sehr kritisch.

© Bernd Thissen/dpa

Leichtathletik-Reformen: Todesstößchen für die Tradition

Die Langstrecken im Laufen und Gehen haben in der Leichtathletik keine Zukunft mehr. Die Athleten wurden nicht gefragt – und beschweren sich nun.

Zu den nachdrücklichsten Bildern in der Geschichte der deutschen Leichtathletik gehört sicher, wie Dieter Baumann 1992 einen Purzelbaum auf der Tartanbahn im Olympiastadion von Barcelona schlägt. Über die 5000-Meter-Distanz hatte er die afrikanischen Läufer im Schlussspurt abgehängt. Und auch weltweit haben Langstrecken-Athleten die Leichtathletik geprägt. Läufer wie der Äthiopier Haile Gebrselassie oder seine Landsfrau Tirunesh Dibaba. Das Gleiche gilt für die Wettbewerbe im Gehen, besonders die Ostdeutschen erinnern sich noch an die großen Erfolge von DDR-Athleten – die von Hartwig Gauder oder Ronald Weigel zum Beispiel.

Doch die Zeiten ändern sich. So sehr in der Leichtathletik, dass Wesensmerkmale der olympischen Kernsportart wegfallen. Der Leichtathletik-Weltverband IAAF hat Mitte März auf einer Council-Sitzung in Doha umfangreiche Reformen beschlossen. Oder anders formuliert: Er hat den Langstrecken-Disziplinen zumindest ein Todesstößchen versetzt. Schon ab dem kommenden Jahr soll die längste Laufstrecke bei den Wettbewerben der Diamond League nicht mehr wie bisher über 5000 Meter, sondern nur noch über 3000 Meter absolviert werden. Auch abseits der Diamond League hat der Verband offenbar keine Lust mehr auf die Langstrecke.

50 Kilometer Gehen haben keine Zukunft mehr

Der IAAF-Rat, in dem übrigens kein deutsches Mitglied vertreten ist, sprach sich einstimmig für eine Kürzung der Distanzen im Gehen aus. Bis 2022 soll bei den Gehern noch alles beim Alten bleiben, danach soll alles auf noch zu bestimmende Strecken verändert werden. Sicher ist nur: Die 50 Kilometer im Gehen haben keine Zukunft mehr. Die Gründe hierfür sind recht einfach zu benennen: Der Weltverband will sein Produkt fernsehtauglicher und vermarktbarer machen und deshalb das Programm straffen. Eventisierung heißt das im Vermarktersprech.

Bei den großen Meetings wie der Diamond League orientiert sich das neue Konzept zeitlich am so erfolgreichen Fußball. Bestenfalls in 90 Minuten sollen alle Wettbewerbe beendet sein. Ein Höhepunkt soll auf den nächsten folgen. Doch nicht alle sind mit den Plänen der IAAF einverstanden. Vor allem von Seiten der Athleten gab und gibt es Widerstand. Es liegt in der Natur der Sache, dass dieser vor allem von den Langstreckenläufern und den Gehern kommt. Der für den SC Potsdam startende Hagen Pohle etwa, einer der besten Geher Deutschlands, ist enttäuscht von der Entscheidung des Weltverbandes. „Man hat nicht versucht, mit den Athleten ins Gespräch zu kommen“, sagt er dem Tagesspiegel. „Vor der Tagung des IAAF-Councils wird einfach nur eine einfache Presseerklärung ausgegeben. Auf massive Proteste von Athleten, Trainern und Ehemaligen wurde nicht eingegangen.“

Entwicklungsbedarf. Deutscher Leichtathletik-Cheftrainer Idriss Gonschinska sieht die Eventisierung positiv.
Entwicklungsbedarf. Deutscher Leichtathletik-Cheftrainer Idriss Gonschinska sieht die Eventisierung positiv.

© Maurizio Gambarini/dpa

Für Pohle und die meisten seiner Mitstreiter ist die 50-Kilometer-Distanz der Markenkern. Es ist der Klassiker unter den Wettbewerben beim Gehen. „Das Gehen wird seinen Reiz verlieren“, sagt Pohle. Leider sei der Trend im Moment, alles zu straffen. „Aber man sollte nicht jedem Trend hinterherrennen. Sonst gibt es bald überhaupt keinen Ausdauersport mehr“, fürchtet der 27-Jährige. Für ihn ist auch die vermeintlich mangelnde Fernsehtauglichkeit der Langstrecke kein Argument. „Die Wettbewerbe werden zumindest bei Übertragungen etwa im Rahmen einer Sportschau ohnehin zusammengefasst“, sagt er. „Da ist es egal, ob ein Wettbewerb zwei oder vier Stunden dauert.“

Sportler wehren sich gegen die Verbände

Pohle steht mit seiner Kritik an den Reformen stellvertretend für viele Sportler. Auf Verbandsebene sieht das Meinungsbild dazu etwas differenzierter aus. Idriss Gonschinska, Leitender Direktor Sport des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, hält die in Athletenkreisen häufig verbrämte Eventisierung nicht für ein Schimpfwort. „Es muss in der Leichtathletik eine Entwicklung geben. Sie muss sich verändert präsentieren“, sagt der ehemalige Leistungssportler. „Wir haben im vergangenen Jahr bei der EM in Berlin gesehen, dass das funktioniert. Es gibt dieses 90-Minuten-Fenster, daher muss es Anpassungen geben.“ Auf der anderen Seite hat Gonschinska Verständnis für die Kritik. „Natürlich muss es auch das Ziel sein, elementare Bestandteile der Leichtathletik zu bewahren“, sagt er. „Doch dieser Spagat zwischen Tradition und Moderne ist sehr schwer.“

Gonschinska könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass Wettbewerbe auf der 5000- oder 10000-Meter-Distanz vermehrt als Stadtläufe ausgetragen werden. „Man könnte überlegen, ob man eine Art City League veranstaltet, also eine Serie von Langstreckenläufen in Städten“, sagt er. Konstruktive Vorschläge wie die von Gonschinska waren zuletzt vom Leichtathletik-Weltverband nicht zu vernehmen. Unter ihrem sehr vorwärtsgewandten Präsidenten Sebastian Coe scheint die IAAF derzeit am Wesenskern der Leichtathletik eher weniger interessiert. Ein Fußballspiel dauert 90 Minuten, in der Leichtathletik soll das möglichst auch der Fall sein.

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