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Leichtathletik-WM - Kugelstoßen Frauen

© dpa

Leichtathletik-WM: Stöße im Zorn

Nadine Kleinert ist 1,90 Meter groß und 90 Kilogramm schwer. Dennoch übersieht man sie. Die Kugelstoßerin will es Ralf Bartels nachmachen: Sie kämpft heute um eine Medaille – und um ein wenig Respekt

Die Nackten standen links und rechts von ihr, sie hielten ein paar Meter Abstand. Aber sie beobachteten jede ihrer Bewegungen. Und irgendwann mal klatschten sie. Zum Dank hob Nadine Kleinert die Hand und grüßte lachend. Im Hintergrund kräuselten sich die Wellen des Maschsees, und der Sprecher an der Kugelstoßanlage verkündete stolz: „20,06 Meter“.

20,06 Meter, so weit hatte Nadine Kleinert vom SC Magdeburg noch nie gestoßen. Ausgerechnet hier, auf einer improvisierten Anlage mitten in einem Park in Hannover, in idyllischer Umgebung, mit Badegästen als Zuschauern, da hatte sie die Kugel bis zum persönlichen Rekord gewuchtet. Es war ein schöner Tag im Jahr 2005.

Und irgendwie, das wusste Nadine Kleinert sofort, irgendwie kann es das nicht gewesen sein.

Vier Jahre später hat sich daran nichts geändert. Sie sitzt in der Cafeteria des Leistungszentrums Kienbaum, es ist keine entspannte Körperhaltung. Sie redet über ihre innere Unruhe, da kann sie nicht entspannt plaudern. „Ich merke, da steckt mehr in mir. Da ist noch irgendwas, das raus muss.“ Da muss noch ein Stoß raus, der weiter geht als 20,06 Meter.

Sie ist jetzt 33, aber sie hat im Training Werte, die ihre Unruhe verstärken, es sind Werte, die bestätigen, dass da noch mehr ist. Seit einiger Zeit wuchtet sie die Acht-Kilogramm-Kugel aus dem Ring. Stöße aus dem Stand. „Es war ein neuer Anreiz“, sagt sie. Am Anfang plumpste die Kugel nach zehn Metern auf den Boden, das war ihr zu wenig. Inzwischen landet die Kugel bei zwölf Metern.

In dieser Saison steht ihre Bestweite mit der vier Kilogramm schweren Wettkampfkugel bei 19,80 Meter. Das ist gut, aber noch längst nicht alles. Die WM im Olympiastadion, diese besondere Atmosphäre, das könnte der Rahmen sein, bei dem ihr dieser eine, große Stoß gelingt. Heute Abend läuft das Kugelstoß-Finale der Frauen. Es geht um eine Medaille; ihr Teamkollege Ralf Bartels hat am Samstagabend vorgemacht, wie das geht.

Um Gold geht es auch für Nadine Kleinert nicht. Das ist unter normalen Umständen reserviert für Valerie Vili, die Olympiasiegerin aus Neuseeland, die Titelverteidigerin. 20,69 Meter hat sie in diesem Jahr schon gestoßen. Und wenn Vili gewinnt, dann wird Nadine Kleinert wieder im Schatten stehen. Vielleicht gelingt ihr ja der perfekte Stoß, vielleicht hat Nadine Kleinert aus Magdeburg ihr großes Erfolgserlebnis, grundsätzlich wird es nichts ändern. Sie wird diese Frau bleiben, die 1,90 Meter groß und 90 Kilogramm schwer ist und die man übersieht. Silber bei den Olympischen Spielen 2004, Silber bei den Weltmeisterschaften 1999 und 2001 sowie Bronze bei der WM 2007 haben daran nichts geändert. „Ich lasse gerne den Spruch ab: Ich habe ein breites Kreuz, da passen viele Sponsoren drauf“, sagt sie. „Aber keiner hat darauf reagiert.“

Nadine Kleinert empfindet ihr sportliches Leben als endlose Reihe von Demütigungen. 2004 war sie die einzige deutsche Medaillengewinnerin, die nicht in den Studios von ARD und ZDF auftauchte. Nach Athen suchte sie einen PR-Manager, der sie ins „Sportstudio“ lotste oder ihr andere Termine vermittelte. 20 Experten schrieb sie an, 20 Experten sagten ab. Und kurz nach ihrem Olympiasilber kündigte ein Autohaus in Magdeburg den Vertrag mit der Kugelstoßerin. Den Leihwagen musste sie zurückgeben. Angeblich war die Versicherung zu teuer. Nach den Olympischen Spielen 2008 wollte Adidas den Ausrüstervertrag mit Kleinert kündigen. Erst nach langem Hin und Her ging es doch weiter. „Beim Kugelstoßen“, sagt Kleinert, „denken immer noch viele: quadratisch, praktisch, gut.“ Zu unattraktiv, nicht medientauglich. Beim Meeting in Wattenscheid, zwei Wochen vor der WM, stand sie neben der Tribüne und schimpfte minutenlang über den Stadionsprecher. Der hatte die Kugelstoßerinnen kaum erwähnt.

In Stockholm, ein paar Tage vor dem Meeting in Wattenscheid, da hatten sie mitten in der Stadt gestoßen, da standen 1000 Menschen um den Ring, da fühlte sich Nadine Kleinert geborgen und anerkannt. Sie will ja keine Ovationen, sie fordert nur den Respekt ein, der ihr und ihren Kolleginnen zusteht. Sie findet es beschämend, dass sie ihre Bilanz fast trotzig aufzählen muss: „Seit 1997 stehe ich mit einer Ausnahme immer im Finale bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften.“ Aber dann redet sie mit Meeting-Chefs und kommt sich vor wie ein Vertreter, der Second-Hand-Ware verkaufen will. „Es gibt Wettkämpfe, da zahlt man mir 200 Euro.“ Oder, schlimmer: „Man bietet mir nur Fahrtkosten an.“

Sie wird ihren Kampf um Respekt nicht aufgeben. Sie wird bis zum Karriereende die zornige starke Frau bleiben. Aber sie wird sich zugleich an Zielen orientieren, die leichter zu erreichen sind als Anerkennung. Den perfekten Stoß zum Beispiel. Sie hat ihn drauf, das ahnt sie. Am Maschsee hat sie Wettkampfrekord gestoßen. Im Training hat sie mehr erreicht: Ihr weitester je gemessener Stoß landete bei 20,17 Metern.

Kugelstoßen Frauen, 20 Uhr 20, live im ZDF

Beim Kugelstoßen denken immer noch viele: quadratisch, praktisch, gut. Was sie damit wirklich meinen? Es ist unattraktiv 

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