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Leichtathletik: Zweifel an den Hacken

400-m-Läufer Jeremy Wariner startet in Stuttgart. Wenn Ingo Schultz an sein erstes Aufeinandertreffen mit Wariner 2004 zurückdenkt, sieht er einen leichtfüßigen Athleten davoneilen.

15 Meter Rückstand hatte Schultz auf Wariner bei ihrer ersten läuferischen Begegnung – obwohl Wariner deutlich vor dem Ziel austrudelte. Die beiden schien eine kleine Welt zu trennen, dabei war Schultz 2001 WM-Zweiter geworden.

Damals kam Schultz der Auftritt des amerikanischen Läufers über die Stadionrunde wie eine Offenbarung vor, wie der Auftritt eines neuen Michael Johnson. Wariner wurde gefeiert und bewundert, von Athleten, Medien und Verbandsfunktionären. Heute, drei Jahre später, denkt Schultz anders. Nach Wariners Sieg bei den Weltmeisterschaften in Osaka, wo der 23-Jährige mit der drittschnellsten jemals gelaufenen Zeit von 43,29 Sekunden gewann und im Ziel nicht einmal erschöpft wirkte, wunderte sich der Deutsche: „Dass er ins Ziel kommt und nicht atmet, löst Ungläubigkeit aus. Also, mir geht es anders.“ Auch Schultz’ Staffelkollege Kamghe Gaba staunte: „Der Mensch muss doch atmen, oder? Also, ich habe nach einem Rennen noch ganz andere Sachen gemacht“, umschrieb er dezent, dass er wie die meisten Läufer über die 400 Meter bis zum Erbrechen rennt.

Während die restlichen Läufer noch schnaufend im Zielbereich liegen, befindet sich Wariner schon auf der Ehrenrunde oder im Interview mit Journalisten. So wird es auch am Samstag in Stuttgart wieder sein, wenn sich die Weltelite der Leichtathleten zum Saisonausklang „World Athletics Final“ versammelt. Die Veranstalter hoffen beim vermutlich letzten Auftritt der Leichtathletik im Gottlieb-Daimler-Stadion noch einmal auf das Stuttgarter Publikum, das sich bei der WM 1993 den Ruf als bestes Leichtathletik-Publikum der Welt erworben hatte.

Um größeres Interesse zu schüren, setzen die Stuttgarter auf Duelle – auf Susanna Kallur gegen Michelle Perry im Hürdensprint oder Christina Obergföll gegen Steffi Nerius im Speerwurf. Sie stehen damit im Einklang mit der Philosophie der Meetingdirektoren, die in Zeiten der unerlaubten Leistungssteigerung den Kampf Mann gegen Mann oder Frau gegen Frau in den Vordergrund stellen. Der Kampf gegen die Uhr oder die Weitenmessanlage ist seit den jüngsten Dopingfällen mit Hintergedanken besetzt.

Jeremy Wariner gibt den Veranstaltern ein Problem auf. Das Konzept des direkten Duells funktioniert nicht. Die anderen Läufer sehen nur noch die Hacken des Weltmeisters und Olympiasiegers. Wariners Leistungen provozieren die Frage, ob man ohne Hilfsmittel eine Disziplin so dominieren kann wie der Schützling von Trainerlegende Clyde Hart. Der hat übrigens auch Michael Johnson vor rund zehn Jahren zum Weltrekord (43,18 Sek.) verholfen – schon damals nicht frei von Spekulationen. Solange nichts bewiesen ist, bleiben die Lager gespalten: In diejenigen, die Wariner als Inbegriff einer neuen Leichtathletik-Generation sehen, die nicht ausschließlich auf Muskelkraft setzt und das Ende für die massigen Oberkörper am Start bedeuten könnte. Und in die Zweifler, für die Wariner nur die Zukunft des Dopings verkörpert.

Philip Häfner

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