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Die Zeiten der Älteren sind bei Breitensportveranstaltungen meist besser als die der Jüngeren.

© dpa

Leistungsabfall in der Leichtathletik: „Die Alten sind heute schneller als die Jungen“

Trainer Heiko Schilff, Breitensportwart beim Berliner Leichtathletik-Verband, über die fehlende Bereitschaft, sich quälen zu wollen.

Herr Schilff, Sie beklagen das Niveau in der deutschen Leichtathletik. Was stimmt denn nicht?

Das ist ziemlich einfach: die Leistungen beim Nachwuchs und im sogenannten Breitensport.

Können Sie Beispiele nennen.

Ja, etliche. Früher war man in Berlin und Umgebung über zehn Kilometer mit einer Zeit von 34 Minuten relativ abgeschlagen im Mittelfeld. Heute ist man damit ganz weit vorne. Selbst mit 60 Jahren und einer Zeit von 40 Minuten zählt man zu den besten sieben Prozent eines internationalen Starterfeldes wie etwa bei der City-Nacht vor wenigen Tagen in Berlin. Vor 30 oder 20 Jahren wäre man mit der Zeit weit hinten gewesen. Oder nehmen wir die jüngsten offenen Berlin-Brandenburgischen Straßenlaufmeisterschaften über zehn Kilometer.

Was passierte da?

Die Siegerin in der Klasse der 18- und 19-Jährigen kam in 43,34 Minuten ins Ziel – und war damit mehr als zwei Minuten langsamer als die Schnellste in der Klasse der 50- bis 55-Jährigen. Die Alten sind heute schneller als die Jungen.

Das spricht für die Alten.

Aber noch mehr gegen die Jungen.

Aber in der Spitze sind die Leistungen immer noch gut.

Ja, die Spitze ist immer noch gut. Aber die Breite der Spitze ist verdammt dünn geworden.

Woran liegt das?

An der Bereitschaft, sich quälen zu wollen.

Woran machen Sie das fest?

Ich arbeite seit 30 Jahren als Trainer. Ich sehe es jeden Tag. Die Einstellung ist eine andere geworden. Zwar sagen mir beim Training häufig die jungen Sportler, dass sie sich anstrengen. Aber ich sehe, dass das nicht stimmt. Die jüngeren Sportler tun sich schwer, aus der Komfortzone herauszukommen. Sie haben andere Ziele.

Welche sind das?

Es geht mehr darum, einen Langstreckenlauf oder einen Marathonlauf zu schaffen, damit man ihn geschafft hat. Das ist der Mount Everest der Breitensportler. Es geht aber immer weniger darum, ihn richtig gut zu schaffen. Weil dafür bräuchte es intensiveres Training, auch die gemeinen Sachen wie Intervalltraining. Das ist unangenehm, die Jungen sind nicht mehr bereit dazu.

Heiko Schilff, 60, Breitensportwart beim Berliner Leichtathletik-Verband ist seit 30 Jahren Leichtathletiktrainer.
Heiko Schilff, 60, Breitensportwart beim Berliner Leichtathletik-Verband ist seit 30 Jahren Leichtathletiktrainer.

© privat

Das ist aber eine harte Unterstellung.

Das mag sein, aber ich denke mir das ja nicht aus. Ich habe neulich bei einem Marathon mit Leuten gesprochen, die hinter dem Besenwagen liefen. Die sagten mir, dass sie halt die Medaille wollten. Diese Läufer waren völlig untrainiert, sie haben sich durchgewürgt. Mir gefällt diese Einstellung nicht. Diese Läufer sind nicht selbstkritisch und werden trotzdem noch von anderen für ihre vermeintliche Leistung bewundert.

Wenn das Niveau sinkt, ist die Leichtathletik vielleicht für viele schlicht nicht mehr attraktiv genug.

Für viele Disziplinen mag das gelten, für den Hochsprung zum Beispiel. Da nimmt die Zahl der Wettbewerber und dementsprechend auch das Niveau kontinuierlich ab. Bei den Finals jüngst in Berlin war bei den Männern 2,22 Meter die höchste übersprungene Höhe. Vor circa 30 Jahren sind Thränhardt oder Mögenburg fast 20 Zentimeter höher gesprungen. Was das Laufen angeht, stimmt Ihre These ohnehin nicht. Das war nie beliebter als heutzutage. Nur haben sich die Motive verändert. Und das Laufen an sich rückt immer mehr in den Hintergrund.

Wie meinen Sie das?

Die Ernährung etwa. Ihr wird eine immens große Bedeutung beigemessen. Es gibt Läufer, die bewaffnen sich vor einem Marathon mit zig Getränkefläschchen oder Energiegels. Und viele beginnen ja gar nicht erst mit dem Laufen, weil sie sagen, ich muss erst die Ernährung umstellen, bevor ich laufe. Wir haben uns früher vor Läufen mehr Gedanken darüber gemacht, ob wir genug trainiert haben. Wie wir uns in der letzten Woche ernährt hatten, spielte kaum eine Rolle. Heutige Ernährungswissenschaftler würden sagen, wir haben eigentlich alles falsch gemacht. Aber wir waren trotzdem schneller als die meisten heute. Es steckt eben eine riesige Industrie hinter dem Laufen, die das Laufen an sich immer nebensächlicher macht. Und damit meine nicht nur die Ernährung.

Was noch?

Das Material, die Schuhe. Die Palette ist riesig. Ständig gibt es neue Trends. Viele Jahre waren Schuhe mit Pronationsstütze das Maß aller Dinge. Nun weiß man, dass das gar nicht gut für den Fuß ist. Wer eine Fehlstellung hat, muss zum Orthopäden. Inzwischen gibt es, nachdem jahrelang alles Mögliche ausprobiert worden ist, einen Trend: den Neutralschuh. Also den Schuh, wie es ihn schon vor zig Jahren gegeben hat. Oder denken Sie an das Nasenpflaster, das für ein paar Jahre mal getragen wurde, obwohl es nachgewiesener Maßen keinen Effekt hatte. Hier profitieren nur große Unternehmen, ganz bestimmt aber nicht die Läufer.

Sind Sie denn bei all diesen Entwicklungen noch gerne Trainer?

Ja, unbedingt! Auch wenn das in dem Gespräch vielleicht nicht rübergekommen ist. Laufen bereitet mir immer noch eine sehr große Freude, und als Trainer habe ich immer noch und sehr oft richtig tolle Erlebnisse. Neulich habe ich mit einer jungen Gruppe ein Mördertraining durchgezogen. Das ging für alle an die Substanz. Sie hatten es geschafft, über die Komfortzone zu kommen und sich zu quälen. Anschließend haben ihre Augen geleuchtet. Das hat mich glücklich gemacht.

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