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Die neue Wolgograd-Arena entstand am Ufer der Wolga vor der Kulisse des Kriegsmahnmals "Mutter Heimat ruft".

© dpa

Liebesgrüße aus Moskau: Wolgograd ist auf Knochen gebaut

Sven Goldmann erzählt in seiner Kolumne von Wolgograd, wo heute noch vieles an den Zweiten Weltkrieg erinnert.

Am aufregendsten ist der Anflug am Abend. Wenn sich die Dunkelheit über Wolgograd legt und das Stadion leuchtet, ein funkelnder Diamant, der aus der Luft an einen fünfzackigen Stern erinnert. An den Stern der Roten Armee, er ist immer noch allgegenwärtig in der Stadt, die mal Stalingrad hieß.

Die Schlacht von Stalingrad gehört fest zum nationalen Erbe, das Russland von der Sowjetunion übernommen hat und weiter sorgsam hütet. Schon deswegen musste die Weltmeisterschaft unbedingt nach Wolgograd und dazu gleich ein neues Stadion, es liegt direkt an der Wolga und ist ein bisschen auch der Roten Armee gewidmet. Da ist es von interessanter Symbolik, dass zur Einweihung heute die Engländer ihr erstes WM-Spiel in Wolgograd bestreiten, um 20 Uhr gegen Tunesien. Engländer haben bekanntlich ein Faible für alles, was mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängt, und wenn sich das mit Fußball verbinden lässt: umso besser!

Die Wolga fließt breit, grün und träge

Neben dem neuen Stadion fließt die Wolga breit und grün und träge. Wem das alles zu idyllisch wirkt, der muss nur den Kopf zur anderen Seite wenden. Zu dem Hügel mit der riesigen Statue „Mutter Heimat“, errichtet zum Gedenken an die vor 75 Jahren geschlagene Schlacht. Mit wehendem Haar, ausgebreiteten Armen und erhobenem Schwert mahnt Mutter Heimat mögliche Eindringlinge – und vielleicht auch den Besuch aus England: Boys, benehmt euch!

Was das Gedenken an den Abwehrkampf im Großen Vaterländischen Krieg betrifft, verstehen die Russen keinen Spaß. Ein Besuch in Wolgograd ist nationale Pflicht. Für den Wiederaufbau der fast komplett zerstörten Stadt hat die Sowjetunion ihre besten Architekten an die Wolga geschickt und alles an finanziellen Mitteln zur Verfügung gestellt, was notwendig war. Wer vor der zerbombten Mühle neben dem Panoramamuseum zur Schlacht um Stalingrad steht, für den bekommt der abstrakte Begriff „Häuserkampf“ eine doch sehr beklemmende Bedeutung. Das neue Wolgograd, das seit 1961 nicht mehr Stalingrad heißt, ist auf Knochen gebaut. Überall wurden beim Wiederaufbau die Gebeine von Soldaten entdeckt, auch zu Füßen von Mutter Heimat.

Der Weg vom Leninski Prospekt den Hügel hinauf ist von Pappeln gesäumt. Eltern fassen ihre Kinder bei den Händen, Schulklassen marschieren schweigend voran, Hochzeitspaare lassen sich fotografieren. Aus den Lautsprechern knattern Maschinengewehrsalven, Fanfaren, patriotische Lieder. Niemand würde es wagen, auf den kurzgeschnittenen Rasen zu treten oder eine zu Ehren der gefallenen Rotarmisten niedergelegte Rosen zu stibitzen.

Mal sehen, wie die englischen Fußballtouristen diesem Gedenken begegnen. Ob sie still den Schrecken auf sich wirken lassen oder fröhlich zum Dosenbier ihre eigenen Stadionkriegslieder grölen. Etwa „Ten German Bombers“, einen Abzählreim, bei dem in jeder Strophe ein neues deutsches Flugzeug abgeschossen wird. Und wenn – Wolgograd hat schon ganz anderes überstanden.

- Sven Goldmann ist Reporter beim Tagesspiegel und reist während der WM durch Russland. Hier schreibt er im Wechsel mit Philipp Köster, Roman Neustädter, Harald Stenger, Frank Lüdecke, Nadine Angerer und Jens Hegeler.

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