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Sport: Live aus dem Elfenbeinturm: Was will der echte Fußball-Pseudo?

Eine Vielheit von Liebenden sind wir, nichts anderes. Mit Spott, kaltem Unverständnis, gepflegter Ignoranz oder hochmütigen Mitleid haben wir zu leben gelernt.

Eine Vielheit von Liebenden sind wir, nichts anderes. Mit Spott, kaltem Unverständnis, gepflegter Ignoranz oder hochmütigen Mitleid haben wir zu leben gelernt. Und sollten nicht wünschen, dass es anders sei. Man braucht die Desinteressierten und ewig Fußballfremden nicht zu verdammen. Im Gegenteil, wir sollten sie ehren. Denn dadurch ehren wir unsere Liebe um so mehr.

Viel schmerzhafter als solch Befremden, ja direkt ins Herz, trifft allerdings die alles lähmende Penetranz der Simulanten, Pseudos und Blender. Es ist gut, schon jetzt darüber zu sprechen. Überall nämlich werden sie uns gerade in den kommenden Monaten verfolgen. In der Straßenbahn, in den Kantinen und Mensen, bis in unsere Kneipen und Zimmer werden sie sich wagen, gar kommentierend in die Medien. Direkt vor unseren Ohren werden sie - übermotivierte Experten der jüngsten Stunde - anderen Blendern das aktive Abseits erklären, selbstbewusst den halben Umfang mit dem vollen Durchmesser und Ronaldo mit Ronaldinho verwechseln - gar ein Comeback von Lothar Matthäus fordern. Es gibt kein Entkommen. Wir müssen uns auf sie einstellen.

Gewiss, wie jeder Pseudo meint es auch der echte Weltmeisterschafts-Pseudo wahrscheinlich nicht böse. Die heiter vorgetragene Gnadenlosigkeit, mit der er unser Wissen, unsere Leidenschaft und in besonders üblen Fällen gar unsere Verzweiflung imitiert, lässt sich unter wohlwollender Interpretation als ein mit Unsicherheit gepaartes Anerkennungsbedürfnis verstehen. Der Pseudo erschiene so schlicht als ein Mensch, der mit dabei sein will.

Ginge es tatsächlich allein darum, er wäre herzlich willkommen. Sofern er die Klappe hält, versteht sich. Dem klassischen WM-Blender aber, der alle vier Jahre sein brasiliengelbes T-Shirt überstreift, um uns ab dem Achtelfinale die Sicht zu versperren, ist solche Zurückhaltung fremd. Ihn treibt im Kern ein anderer Drang. Da steht er, wackelt ungeschickt mit den Hüften, lässt sich bereitwillig von läppischen wie ineffektiven Übersteigern berauschen und bewahrt bei all dieser geschauspielerten Selbstvergessenheit dennoch die dunkle Ahnung, die eigentliche Bedeutung des Geschehens könnte ihm verschlossen bleiben. So ist es auch. Denn Fußball ist kein Freizeitvergnügen, sondern eine Lebensform.

Was es bedeutet, ihn zu lieben, lässt sich demgemäß nicht sagen. Es kann sich nur im jahrzehntelangen Mitvollzug zeigen. Mit der unsteten Hingabe von lediglich vier oder fünf WM-Wochen und ein bisschen "Beckham, du Arschloch!" brüllen ist es jedenfalls nicht getan. Im Gegenteil, das Wesentliche sieht sich verfehlt und entfremdet. Wir nehmen an, auch der echte WM-Blender ahnt dies. Und fragen uns deshalb, was ihn eigentlich treibt, wenn er auch in diesem Sommer der großen Entscheidungen unsere Nähe, also die Nähe zum Fußball sucht? Wäre am Ende gar ein saisonal immer wieder erwachendes, schier unstillbares Bedürfnis nach Pseudo-Erfahrungen zu diagnostizieren? Erfahrungen also, die gerade deswegen besonders genossen werden, weil man gewiss ist, dass sie letztlich fremd und äußerlich bleiben?

Es ist immer schwer zu sagen, was Menschen denken, die sich selbst nicht verstehen. Aber da die echten WM-Pseudos nicht von der Liebe zum Fußball erfasst sind, die Voraussetzung zu kompetentem Nachvollzug unerfüllt bleibt, und es ihnen ganz offensichtlich auch nicht um stille Teilhabe geht, muss an andere Erklärungen für die schamlos offensive Art ihrer Beteiligung gedacht werden. Wir wagen deshalb die Vermutung, dem echten WM-Blender gehe es eigentlich um Fußball als Event - insbesondere das tolle WM-Feeling und natürlich die super WM-Stimmung, um etwas jedenfalls, das auf keinen Fall verpasst werden darf. Sollte "Event" noch etwas anderes als "Drumherum" bedeuten, dann ist damit wohl jene Erlebnisweise gemeint, bei der es idealerweise egal sein darf, wer und was genau im Zentrum des kurz geweckten Interesses steht. Ein oberflächlicher Modus des Erlebens also, der den Fußball als jederzeit austauschbaren Emotionsanreger wahrnimmt.

Hauptsache nur, man verguckt sich nicht. Sonst könnte es wider Willen doch noch zu bestimmteren Interessen, gar zu einer jahrzehntelangen, tiefen Bindung kommen. Spätestens dann aber, das weiß jeder, ist Schluss mit lustig. Ein paar hunderttausend Pseudos erwischt es erfahrungsgemäß bei jeder WM. Erklären können sie es meist nicht. Aber dass sich ihr Leben seither grundlegend veränderte, darin stimmen sie alle überein.

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