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Treffend. Gerd Müller schießt aus der Drehung

© ddp

Sport: „Man muss hindurchgehen wie ein Wildschwein. Wie Müller.“

Der ungarische Autor Péter Esterházy hat mit „Keine Kunst“ das Fußballbuch des Jahres geschrieben. Ein Gespräch über Formkrisen, die WM ’54, Mario Gomez und die Knorpelmaus Béla

„Wenn eine Gesellschaft

gut funktioniert, kann Fußball nicht wichtig sein.“

Péter Esterházy, der große Alfredo di Stefano ist zu der Erkenntnis gekommen: „Fußball ist eine Kunst.“ Hat er recht?

Sowohl der Fußball als auch die Kunst sind ein Spiel, kein kindliches, sondern ein ernsthaftes. Eine Welt für sich, in der andere Regeln bestehen als in der realen Welt. Insofern kann ich Alfredo di Stefano zustimmen.

Welche Metaphern bietet der Fußball uns fürs Leben an?

Ich finde es nicht gut, wenn der Fußball damit beladen wird. Das halte ich für Schöngeisterei. In vielem unterscheidet sich der Fußball sehr vom wirklichen Leben. Zum Beispiel bin ich der Meinung, dass man im Fußball immer gewinnen wollen muss. Im Leben ist das jedoch nicht der Fall. Ich mag Menschen nicht, die immer gewinnen wollen. Aber ich möchte mit niemandem in einer Mannschaft spielen, der nicht gewinnen will. Nach dem Tod von Robert Enke wurde gesagt, Fußball sei nicht alles. Das stimmt. Mit einer Ausnahme: Wenn man Fußballer ist.

Für Fußballer muss Fußball alles sein?

Wenn man sich darauf einlässt, dann ja. Das meine ich, wenn ich sage: eine Welt für sich. Und die Welt ist alles.

Die Liverpooler Trainerlegende Bill Shankly sagte: „Einige Leute halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist!“

Sehr wahr! Und auch wieder nicht: Wenn man Fußball als Teil der Gesellschaft betrachtet, dann gelten solche Metaphern natürlich nicht. Aber das interessiert mich weniger. Ich betrachte, was in diesem Viereck passiert. Und da kann man nach einem verlorenen Spiel nun mal nicht sagen: „Ach, es war doch nur ein Spiel!“ Dann sollte man es bleiben lassen.

Sind Sie ein schlechter Verlierer?

Vielmehr ein guter Sieger. Ich kann mich an wenige Momente erinnern, die so schön waren wie ein Sieg im Fußball. Also, es lohnt sich, mich gewinnen zu lassen, dann steigt die Glücksmenge in der Welt erheblich.

Es wird behauptet, dass die WM 2006 das gesellschaftliche Klima in Deutschland verbessert habe. Kann der Fußball so etwas tatsächlich bewirken?

Wenn eine Gesellschaft gut funktioniert, kann Fußball nicht wichtig sein. Anders war das 1954, als der Krieg den Menschen noch in den Knochen steckte. Das galt übrigens auch in Ungarn, obwohl die Nationalmannschaft das WM-Finale verloren hatte. Der Fußball ließ die Menschen die Diktatur, unter der sie leben mussten, vergessen. Jedoch ist das immer eine Art von Selbstbetrug. Denn schließlich ist man immer nur im Stadion frei, während der 90 Minuten, die das Spiel dauert. Man kann aber nicht nur sonntags frei sein.

Der Fußball als Schutzraum. Auch das hätte er dann mit der Kunst gemein.

Richtig, auch die Kunst gewinnt in einer nicht funktionierenden Gesellschaft eine überproportionale Bedeutung. Deswegen träumen Künstler in einer Demokratie ja auch davon, ins Gefängnis geworfen zu werden (lacht).

Hätte Ungarns Geschichte eine andere Entwicklung genommen, wenn die Nationalmannschaft in Bern gewonnen hätte?

Bei der Heimkehr der Spieler konnten die Menschen öffentlich zusammenkommen, um sie zu begrüßen oder zu beschimpfen. Solche Massenversammlungen hätten die kommunistischen Kader sonst nicht zugelassen. Insofern hat dieses Spiel schon eine unmittelbare Folge gehabt. Wenn es einen gnädigen Gott gäbe, hätte Ungarn dieses Finale gewonnen. Ich würde jedoch nicht so weit gehen, dass es im Falle eines Sieges nicht zum ungarischen Volksaufstand von 1956 gekommen wäre. Ein Sieg hätte sich nicht so auf das Nationalbewusstsein übertragen können wie in Deutschland, wo alle dachten: „Wir sind wieder wer!“ Das war nur in einer Demokratie möglich.

Warum?

Die ungarische Wunderelf war ein zwiespältiges Phänomen. Einerseits war sie, wie gesagt, eine Projektionsfläche für Illusionen. Andererseits haben die Kader sie auch für ihre Zwecke ausgenutzt. Sport diente im gesamten Ostblock Propagandazwecken.

Wie sind Sie als Fan damit umgegangen?

Man hätte eigentlich gegen diese Spieler sein sollen, aber man wollte für sie sein. Weil sie nun einmal die Besten waren. Es war kompliziert.

Bei Ferenc Puskás und seinem Team war es damals noch komplizierter. Sie waren die Besten – und doch die tragischen Verlierer.

Natürlich passte diese Niederlage gut zur ungarischen Melancholie. Wir denken, dass Gott und die Welt immer gegen uns sind. Daraus sind malerische Verschwörungstheorien entstanden.

Sind solche Niederlagen der bessere Romanstoff, als es Siege sein können?

Theoretisch taugt Glück zu nichts. Wer glücklich ist, kann eigentlich keine guten Bücher schreiben. Aber ob diese Niederlage ein guter Stoff wäre, das könnte man nur post festum beurteilen. Bislang ist dieser Roman nicht geschrieben worden. Das einzige gute Buch über das Finale von 1954, das ich kenne, ist „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ von dem deutschen Schriftsteller F. C. Delius. Und auch ich habe zwei, drei gute ... Zeilen (lacht).

Wie wurde das 2:3 in Ungarn verarbeitet?

Der Diskurs hielt nicht lange an. Der Aufstand von 1956 verdrängte die Erinnerung. Danach sprachen wir nur noch über Puskás bei Real Madrid – und ärgerten uns darüber, dass über ihn kaum noch berichtet wurde. Er galt ja als Fahnenflüchtiger, weil er den Militärsportverein Honved verlassen hatte. Wenn Real in Budapest spielte, reiste er nicht einmal mit. Erst Anfang der Achtziger ließen sie in wieder ins Land. Und dann stand da dieser Mann mit einem dicken Bauch vor 80 000 begeisterten Zuschauern. Es war lächerlich. Aber plötzlich schlug er mit dem linken Fuß – den rechten hatte er nur zum Abstützen – einen Vierzigmeterpass auf Linksaußen. Das wollte ich auch können. Aber dafür hätte ich 200 Jahre üben müssen!

Träumen Sie immer noch davon, diesen Pass schlagen zu können?

Ja, durchaus. Wann immer ich große Fußballer sehe, befällt mich diese Demut, und ich bin wieder der kleine Schuljunge, der zu ihnen aufblickt.

Wie verhalten sich Fußballer Ihnen, dem Dichter, gegenüber?

Die meisten kennen mich aus dem Fernsehen und sprechen mit mir, als wäre ich jemand. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie meine Bücher gelesen haben, ist nicht sehr hoch.

Ist es für einen Fußballer ein Hindernis, zu intelligent zu sein? Gerd Müller meinte: „Wennst nachdenkst, is’ eh zu spät.“

Guter Satz! Das gilt für alles – auch für das Schreiben. Manche Schriftsteller sind gut, aber zu selbstkritisch. Schriftstellerei ist eine unendliche Arbeit. Wenn man sich fragt: „Warum mache ich das jetzt?“, gibt es nur eine Antwort: „Weil ich es will!“ Und dann muss man hindurchgehen wie ein Wildschwein. Wie Gerd Müller, ohne nachzudenken.

Haben auch Sie Formkrisen?

Ja, wie Mario Gomez. Manchmal kriegt er den Ball nicht rein. Und dann trifft er wieder. Keiner weiß, warum. Ich fühle mich Gomez also recht nah.

Sie haben den Vorteil, dass Ihnen kein Millionenpublikum beim Scheitern zuschaut.

Das stimmt. Für Gomez ist das ein wahnsinniger Druck. Bei den Bayern werden die Bosse gleich hysterisch, und wenn sie sagen, sie seien nicht hysterisch, dann sind sie umso hysterischer. Es ist selten, dass jemand im jungen Alter die Reife hat, gegen diesen Druck nahezu resistent zu sein.

Schade, dass der Körper nicht mehr mitmacht, wenn man menschlich reif genug ist, das Spiel wirklich zu lesen.

Ja, in der Tat. Es wäre ein schönes Bild, weise alte Männer auf Krücken spielen zu sehen. Das hätte Dramatik. Wenn man jung ist, denkt man nicht an den Tod. Nicht mal an einen Meniskusriss.

Haben Sie sich beim Fußball je verletzt?

Ja, ich hatte tatsächlich einen Meniskusriss. Der Knorpel riss ab und wanderte durch mein Knie. Im Ungarischen nennt man das „Knorpelmaus“. Wenn ich später ein Tor geschossen hatte, streichelte ich meine Knorpelmaus. Sie hatte sogar einen Namen: Béla!

„Knorpelmaus Béla“ – ein schöner Titel für ein Kinderbuch.

Ich habe fast keine Fehler. Aber ein Fehler ist, dass ich kein Kinderbuch geschrieben habe.

Von welchem Fußballer würden Sie gern einmal ein literarisches Werk lesen?

Bloß nicht von Beckenbauer! Das wäre wahrscheinlich ein Vierzeiler für die Bierstube.

Das Interview führte Dirk Gieselmann. Eine längere Version, in der Péter Esterházy unter anderem die Lyrik Karl-Heinz Rummenigges kritisiert, steht unter

www.tagesspiegel.de/wm2010

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