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Gemeinsam gegen einen Widersacher. Ob nun Hobbyläufer oder Weltrekordanwärter - beim Berlin-Marathon haben die Teilnehmer gegen den inneren Schweinehund gekämpft.

© dpa

Marathon laufen: Wie man den inneren Schweinehund besiegt

Beim 41. Berlin-Marathon sind Weltrekordanwärter und Hobbyläufer gestartet, der innere Schweinehund ist ihr größter gemeinsamer Nenner. Wer er ist und wie man ihn bekämpft.

Was willst du eigentlich noch? Sei zufrieden mit dem, was du hast! Mehr schaffst du sowieso nicht! So angeknurrt zu werden, kann Jan Fitschen gerade gar nicht gebrauchen. Dieses 10 000-Meter-Rennen bei der Leichtathletik-EM in Göteborg 2006 fühlt sich nach dem Lauf seines Lebens an. Achter will er mindestens werden, auf Platz vier liegt er schon. Sensationell für seine Verhältnisse. Aber als er zum Sturm ansetzen will aufs Siegerpodest, meldet sich sein größter Gegner. Der innere Schweinehund ruft ihm zu: Übernimm dich nicht! Hier entlang, ich zeig' dir den bequemsten Weg.

Als die Glocke die letzte Runde einläutet, ist Fitschen immer noch Vierter, mit einem gewaltigen Rückstand auf die drei vor ihm. Unaufholbar sieht das aus.

Eine Runde später ist er Europameister.

Nur die deutsche Sprache kennt ihn - als Schimpfwort für niedere Instinkte

Es war Fitschens wohl intensivste Begegnung mit dem Schweinehund, jenem Untier, das in ihm und in uns allen haust. Nur die deutsche Sprache kennt ihn, als Schimpfwort steht er für niedere Instinkte, für Trägheit, Schwäche, Unvernunft. Er kann ein Monster sein, der alle guten Vorsätze auffrisst, jeden Versuch, sich ein bisschen zu bewegen, um ein Kilo abzunehmen oder beim Treppensteigen nicht mehr außer Puste zu geraten. Manche scheinen ihn jedoch schrumpfen lassen zu können auf die Größe einer lästigen Mücke – einmal durch die Luft gefuchtelt, und schon ist sie verscheucht.

Auch Jan Fitschen hat eine besondere Beziehung zu seinem Schweinehund. In Göteborg schlug er ihn mit Tricks in die Flucht, er gaukelte sich etwas vor, verringerte in Gedanken schon mal den Rückstand. „Sobald ich nur geahnt habe, dass ich näher an den Jungs vor mir dran bin, habe ich es mir schön geredet“, sagt er, „die sind nicht schneller als ich, habe ich mir gesagt, was natürlich nicht stimmte, denn sonst wären sie nicht vor mir gewesen. Aber es hat geklappt.“

Fitschens EM-Titel ist sein größter Sieg gegen den Schweinehund und zugleich einer der größten deutschen Lauf-Erfolge der vergangenen Jahre. „Den Schweinehund zu besiegen bedeutet, sich selbst zu besiegen. Es ist eine besondere Großtat“, sagt der 37-Jährige. Und weil Laufen als trainingsintensive Sportart so viel Überwindung kostet, ist Fitschen auch als Motivationstrainer gefragt, gerade hat er wieder einen Vortrag für einen Automobilkonzern gehalten. „Erst der Schweinehund macht uns Athleten zu Helden.“

Am Sonntag ist nun der Marathon wieder durch Berlin gelaufen, Deutschlands größter. Fast alle Teilnehmer haben trainiert, als die Hitze des Sommers an vieles denken ließ, nur nicht ans Rennen unter freiem Himmel. Als andere abends vor dem Fernseher saßen oder beim Picknick. Breitensportler und Weltrekordanwärter starten in einem Rennen, aber der Schweinehund verbindet sie alle, er ist ihr größter gemeinsamer Nenner.

Sie haben ein inniges Verhältnis zu ihm aufgebaut. „Im Training lauert er, bevor es überhaupt losgeht“, sagt Fitschen. Im Wettkampf verbeißt er sich in einige Waden besonders gern. „Wer den Marathon mit Spaß angeht, Sightseeing in Berlin machen möchte, hat damit kein Problem“, sagt Fitschen, „aber wer eine bestimmte Zeit erreichen will, dem lauert er auf.“

Welche Strategien es gibt, um den Mythos Marathon zu bewältigen

Der Marathon ist ein Mythos, der Mount Everest des kleinen Mannes, groß geworden durch eine griechische Legende. Der erste Marathonläufer starb der Sage nach. Wer gesund im Ziel ankommt, hat schon eine riesige Leistung erbracht.

Es hat schon seinen Sinn, dass die Evolution den Menschen mit dieser inneren Stimme ausgestattet hat. Sie warnt vor Überanstrengung. Vor Herausforderungen, die so groß sind, dass wir sie nicht abschätzen können und daher Gefahr bedeuten. Dann sagt die Stimme: Muss doch nicht sein. Lass gut sein. Der Schweinhund ist auch ein Phrasenschwein.

Warum das Vieh nicht totzukriegen ist, hat die Hirnforschung herausgefunden. Das Wollen und das Tun liegen im Kopf weit auseinander. „Der Weg zwischen dem präfrontalen Cortex, in dem Verstand und Einsicht sitzen, zu den handlungs-steuernden Zentren ist nicht nur lang, sondern auch sehr indirekt und spärlich“, erklärt der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth. „Dagegen sind die Verbindungen vom unteren Cortex, wo Gefühle und Motive sitzen, zu diesen Zentren stark und direkt. Dies hat zur Konsequenz, dass sich Verstand und niedere Antriebe einschließlich des inneren Schweinehundes nicht wesentlich beeinflussen.“ Mit klugen Gedanken allein lässt sich der Schweinehund nicht vertreiben.

Eine eigene Disziplin befasst sich mit der Jagd auf den Schweinehund: die Motivationspsychologie

Aber wie dann? Das wissen Sportler am besten. Ständig müssen sie ihn besiegen, um überhaupt konkurrenzfähig zu bleiben. Ihr Vorteil: Sie haben Übung darin und daher Strategien entwickelt. Der Hochspringer Raul Spank, WM-Dritter, hatte sich früh das größtmögliche Ziel gesteckt: Olympiasieg. „Ich weiß dann einfach, wofür ich aufstehe und das alles mache. Ich werde immer wieder daran erinnert. Bei zehn Kniebeugen hilft es mir, die letzten zwei, drei noch rauszuquetschen.“

Wie könnte der viel zitierte Schweinehund in etwa aussehen? So jedenfalls stellt ihn sich die Sportredaktion des Tagesspiegels vor.
Wie könnte der viel zitierte Schweinehund in etwa aussehen? So jedenfalls stellt ihn sich die Sportredaktion des Tagesspiegels vor.

© Montage: Sabine Miethke

Vorsätze können den Schweinehund schwächen, es ist der erste Schritt, auch für Fitschen. „Ich brauche ein großes Ziel, zum Beispiel 200 Kilometer in der Woche.“ Weil dieses Trainingspensum so gewaltig ist, zerlegt es Fitschen in Tagesportionen. Diese Strategie funktioniert auch im Wettkampf. „Wenn der Schweinehund da ist, dann breche ich die Strecke runter bis zum nächsten Punkt, zur nächsten Kurve. So schubse ich ihn zur Seite, bis ich ihn ganz abgehängt habe.“

Seine Taktik lässt sich wissenschaftlich belegen. Es gibt eine eigene Disziplin, die sich mit der Jagd auf den Schweinehund befasst, die Motivationspsychologie. Anke Baaken hat dazu am sportwissenschaftlichen Institut der Uni Freiburg geforscht und sagt: „Je konkreter ich ein Ziel formuliere, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich es auch umsetze.“ Das kann ein bestimmtes Körpergewicht sein. Stärker wird das Ziel, wenn dazu Bilder im Kopf entstehen, ein flacher Bauch oder wenn man sich selbst beim Zieleinlauf vorstellt. Aus dem Ziel muss dann ein Plan werden. Dafür gibt es eine Regel, 3pw heißt sie und steht für präzise, praktikabel, passend und wirksam. „Der Plan muss präzise sein, wann ich wo mit wem zusammen Sport machen will“, erklärt Baaken. Praktikabel heißt umsetzbar. „Es bringt nichts, wenn ich Tennis spielen will, aber den Beitrag nicht zahlen kann.“

Er muss passend sein. „Damit ich es gerne mache. Wenn der Arzt Nordic Walking empfiehlt, ich aber mit den Stöcken nix anfangen kann, bringt es nichts.“ Schließlich muss er wirksam sein. Mit Gewichtheben lässt sich die Ausdauer nicht verbessern. Am besten, man verabredet sich an festen Tagen zu einer festen Uhrzeit, zum Beispiel im Sportstudio. Denn Baaken sagt: „Die Gewohnheit ist der größte Feind des Schweinehunds.“

Um die Selbstdisziplin zu verbessern, hilft soziale Kontrolle

Die Gemeinschaft ist ein anderer. Diese Taktik wendet Jan Fitschen an. Er trifft sich mit Gleichgesinnten. Gruppentraining mache es ihm leichter, Umfänge abzuarbeiten, gerade auch im Trainingslager, dieser Extremsituation, in der es ums Durchhalten geht. Hier hat die Forschung übrigens eine Parallele zum Essen ermittelt, einem anderen Thema, in dem es um Selbstdisziplin geht: Alleine essen macht eher dick als in Gemeinschaft. Es fehlt die soziale Kontrolle, man isst mehr.

Beim Umsetzen des schönen Plans kann jedoch viel dazwischenkommen. Schlechte Laune, schlechtes Wetter. Da braucht man Starthilfe. Musik hören oder eine Tasse Kaffee trinken und dann mit dem Sport anfangen, rät Anke Baaken, während Fitschen sich mit einem anderen Trick behilft: gleich die Laufschuhe anziehen. „In 99 Prozent der Fälle verschwindet der Schweinehund sowieso, wenn man erstmal an der frischen Luft ist.“ Ansonsten nütze manchmal auch die Erinnerung an die letzte Niederlage gegen die Bequemlichkeit: „Wenn ich nachgegeben habe und einen Fernsehfilm zu Ende geschaut habe, statt zu trainieren, habe ich den ganzen Tag schlechte Laune.“

Das Kraftfutter des Schweinehunds? Natürlich, die Ausreden

Das Kraftfutter des Schweinehunds sind die Ausreden. Auch hier hat sich die Motivationspsychologie etwas ausgedacht: Barrieremanagement, nennt sie es. Also sich schon wetterfeste Sportkleidung am Tag zuvor rauslegen, damit der Regen nicht zum Alibi wird. Direkt vom Arbeitsplatz zum Sport gehen, damit man nicht zu Hause in den Kissen versinkt. Und wenn man es dann geschafft hat, an einem Teilziel angekommen ist, sich überwunden hat, gilt für Anke Baaken: „Erfolge genießen und feiern und sich loben. Eigenlob stinkt nicht.“

Endlich im Ziel. Jan Fitschen kennt Methoden, um mit dem Schweinehund fertig zu werden.
Endlich im Ziel. Jan Fitschen kennt Methoden, um mit dem Schweinehund fertig zu werden.

© Imago

Manche Sportler reden mit ihrem Schweinehund, fordern ihn zum Duell heraus. Fitschen begrüßt ihn wie einen Helfershelfer, der ihn anspornen kann. Es gibt Phasen, in denen begegnet er ihm seltener, aber dass er einmal verschwunden wäre, vertrieben, eliminiert? „Nein, nie“. Denn je besser es bei Fitschen läuft, desto mehr wolle er auch und vom vielen Wollen und Trainieren ist er erschöpft, braucht eine Pause und muss sich wieder neu überwinden. Daher höre er genau in sich hinein, ob es gerade der Schweinehund ist, der ihn in Versuchung bringen will oder der Körper, der nach einer Erholungspause verlangt.

Gut vorbereitet, gut trainiert kann er es dann auch im Wettkampf wieder mit dem Schweinehund aufnehmen, erst ihn hinter sich lassen und dann die Konkurrenten. „Es hilft, sich Gegner im Wettkampf zu suchen. Denn es gibt nichts Schöneres als am Ende noch Leute zu überholen“, sagt Fitschen, „da wachsen einem Flügel“. Wie 2006 in Göteborg.

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