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Marcel Reif. TV-Reporter und Tagesspiegel-Kolumnist.

© dpa

Marcel Reifs Kolumne: Entschlackte Folklore auf St. Pauli

St. Pauli, die bis dato beste Mannschaft der Rückrunde, verliert bei Borussia Dortmund und feiert trotzdem – wie immer. Doch Folklore ist nicht mehr die einzige Existenzgrundlage der Kiezkicker.

War ja auch nicht zu erwarten gewesen, dass der FC St. Pauli in Dortmund die Borussia überrennt und aus dem eigenen Stadion jagt. Auch nicht in der schwersten Krise des Tabellenführers in dieser Saison. Krise? Der BVB? Na ja, wie soll man es nennen, wenn die Jungs in all ihrer Begeisterung über sich selbst und ihr Spiel das Wesentlichste des Fußballs vergessen. Nämlich den Ball dahin zu kicken, wo er hingehört: ins Tor. Aber dieses kleine Luxusproblem hat sich ja nun auch erledigt mit Lucas Barrios’ deutlicher Ansage in der 39. Minute, dass der BVB nicht gewillt ist, den gleichen Chancentod zu sterben wie unter der Woche der HSV. Also alles normal wieder, zumindest fast alles.

Denn normal ist es wohl nicht, dass der FC St. Pauli bis dato die beste Mannschaft der Rückrunde stellte. Und als alltäglich kann auch nicht gewertet werden, dass diese Kiez-Kicker den großen Nachbarn vom HSV in dessen eigenem Heim dahin bringen, sich die grundsätzliche Sinnfrage zu stellen.

Und nun ist den St. Paulianern ohnehin alles egal, auch die Frage, wie sie in Dortmund aussehen. Sie feiern! Was? Egal. Das haben sie dort früher schon gemacht, und doch ist inzwischen alles anders.

Seitdem Helmut Schulte und Holger Stanislawski am Millerntor das Sagen haben, ist so eine besondere Art von Ernsthaftigkeit eingezogen. Die Folklore, die den Klub immer umwaberte, sie ist kein Selbstzweck mehr, auch nicht mehr seine einzige Existenzgrundlage. Trainer Stanislawski hat sie entschlackt, hat ihr die ungesunde Überfrachtung genommen und nutzt ihren Kern und damit die Seele mit offensichtlichem Vergnügen und mit großer Selbstironie. Wenn er sie braucht, bedient er die Klischees, weiß aber sehr wohl auch, dass der Ball auch in St. Pauli rund ist und ins Tor soll. Das alles wirkt im besten Sinne englisch, das hat eine Linie, hat Identität und hohe Authentizität.

Dass sie niemals Meister werden, so what. Würde das irgendjemand wollen auf St. Pauli? Wohl eher nicht. Weil St. Pauli dann ein Klub wäre, der Ambitionen hat, der aufstrebend ist und nach Fortschritt giert. Dann wäre der FC St. Pauli ein Klub wie zum Beispiel, igitt, der HSV. Die Ambition der einstigen Weltpokalsiegerbesieger ist es, den Nicht-Abstieg zu feiern. Eine Niederlage beim Meister in Dortmund? Na und. Viel ärgerlicher ist in St. Pauli, also wirklich richtig mistig ist, dass der HSV mal wieder gewonnen hat.

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