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Sport: „Meine Jungs sind echte Kerle“

Der Mainzer Trainer Jürgen Klopp über das Abenteuer Bundesliga, die Begeisterung für Fußball und sein Image als Intellektueller

Herr Klopp, Sie haben Ihre Mannschaft mit einer besonderen Maßnahme auf die Bundesliga vorbereitet und mit ihr ein fünftägiges Überlebenstraining in Schweden gemacht. Eine angemessene Einstimmung auf die Extremsituation Bundesliga.

Wäre eine schöne Geschichte. Ist aber leider nicht so. Wir hatten das schon geplant, als der Aufstieg noch gar nicht feststand. Ein Team entsteht wie eine Familie durch gemeinsame Erlebnisse, und je extremer die Erlebnisse sind, desto mehr schweißen sie zusammen. Ich habe in meiner Karriere ungefähr 40 000 Trainingslager gemacht, davon kann ich mich an keins erinnern. An die Hotels, die Flughäfen, ja. Aber wo war das noch, wo wir abends einen saufen waren? In Spanien? In der Türkei? Ich weiß es nicht. Schweden kann ich von der ersten bis zur letzten Sekunde nachzeichnen.

Gab es Spieler, die Sie erst überzeugen mussten, mitzukommen?

Überzeugen nicht. Ich bin ja der Chef. Es hat sich aber auch keiner entzogen. So sind die Jungs nicht drauf. Bock hatten die keinen, das stimmt. Und als wir da waren, wurde die Stimmung noch ein bisschen schlechter, weil wir an drei Tagen den brutalsten Regen hatten, den ich jemals erlebt habe. Da habe ich auch gedacht: Das war ja eine Spitzenidee von dir, Klopp! Alle Klamotten nass, die Zelte nass, die Lebensmittel nass. Nach einer halben Stunde hattest du das Wasser bis zu den Knien im Kanu stehen. Aber wenn ich mir vorstelle, es wäre schönes Wetter gewesen, wäre das Ganze nicht halb so extrem abgelaufen. Sowas macht man nur einmal, aber wir haben’s gemacht.

Ihre Spieler sind jetzt richtig abgehärtet?

Das sind echte Kerle. Es gibt welche, die können richtig Holz hacken. Das hätte ich nie gedacht. Und ich habe Spieler, die sogar Brot backen können. Das wussten die vorher allerdings auch nicht.

Und trotzdem bleibt die Bundesliga für Mainz 05 eine Extremsituation.

Ja, weil wir die Bundesliga als extrem reizvoll empfinden. Vermutlich ist sie auch extrem schwierig. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass wir überfordert sind. Wir waren auch nicht die beste Mannschaft der Zweiten Liga, nicht mal die drittbeste. Dass wir trotzdem aufgestiegen sind, zeigt den Charakter der Jungs. Ich glaube, dass wir vieles regeln können. Auch wenn alle Experten um uns herum sagen: Sehr witzig. Genießt es, und macht euch wieder vom Acker!

Sie gehen davon aus, dass Sie länger als ein Jahr in der Bundesliga bleiben?

Na klar, und wir haben alle vor, das in vollen Zügen zu genießen. Wobei unser Auftrag natürlich ein anderer ist. Aber wir wollen, dass die Leute es genießen können. Das ist der Plan. Und wenn es nicht so sein sollte, geht die Welt auch nicht unter. Mainz hat 14 Jahre in der Zweiten Liga gespielt, davon zehn oder elf gegen den Abstieg. Da war es für uns das Größte, in der Zweiten Liga zu bleiben. Und jetzt sollen wir so tun, als wäre es eine Fallgrube, wenn wir zurück müssten? Wir laufen über ein Drahtseil, aber die Zweite Liga ist unser Fangnetz.

Sie haben zweimal am letzten Spieltag den Aufstieg verspielt. Wie haben Sie es geschafft, daran nicht zu zerbrechen?

Wir haben es nicht erlaubt. Und wir haben wirklich gelitten. Vor zwei Jahren haben sich Szenen abgespielt, die man sich nicht vorstellen kann. Wir haben ja gedacht: Jetzt hast du zum ersten Mal die Chance aufzusteigen. Und wahrscheinlich auch zum letzten Mal. Bei uns im Bus saßen 35 Leute, und davon haben bis auf einen alle geflennt wie die Schlosshunde.

Das war der Präsident?

Nein, der Busfahrer. Sonst wären wir noch gegen die Wand gefahren.

Was bedeutet es für die Mainzer, jetzt doch Erstligist geworden zu sein?

Was beim Aufstieg passiert ist, war unglaublich. Wenn man nicht dabei war – Pech gehabt. An diesem Abend gab es in Mainz nicht eine einzige Schlägerei. Als die Beatles zum ersten Mal in den USA im Fernsehen aufgetreten sind, wurde im ganzen Land zehn Minuten kein Verbrechen begangen. Hier ist in drei Stunden nicht ein Portemonnaie geklaut worden. Aber wir haben auch die Trauer zusammen in vollen Zügen durchlebt. Im vergangenen Jahr haben in Frankfurt 6000 Menschen den Aufstieg gefeiert, in Mainz 10 000 den Nicht-Aufstieg.

Woher kommt diese Begeisterung?

Das ist die Lust darauf dazuzugehören. Nicht zur Ersten Liga. Sondern zu dieser Gruppe von Menschen. Aber der Mainzer ist sowieso ein besonderer Typ. Beim Rosenmontagszug stehen Ärzte, Anwälte, Richter an der Straße. Wenn die ein Bonbon fangen, fallen die vor Freude vorne über. Ich komme aus dem Schwarzwald. Bei uns müsste man schon Autos verschenken, um so viele Leute auf die Straße zu bekommen. Aber hier können die Leute aus dem Stand feiern.

Funktioniert so auch der Mainzer Fußball?

Du musst dich den Bedürfnissen der Zuschauer anpassen. Es geht nicht, dass die Zuschauer hier Kampffußball sehen wollen, und wir spielen Rasenschach. Die Leute hier wollen Begeisterung. Das ist das, wo du nicht mehr weißt: Zuckst du jetzt wegen einer Fehlfunktion deines Körpers oder weil da unten die Post abgeht?

Der Mainzer Stil wäre dann die Fortsetzung des Rosenmontags mit fußballerischen Mitteln: totale Begeisterung, und es gibt keine Regeln.

Zum Teil. Wenn wir selbst den Ball haben, sind wir so flexibel wie nichts anderes. Dann wird es richtig verwirrend. Aber wenn der Gegner den Ball hat, weiß jeder, wo er hinzulaufen hat. Je flexibler du in der Offensive bist, desto schwieriger ist es, bei Ballverlust die klare Ordnung zu finden. Das muss ganz schnell gehen.

Und das üben Sie?

Wissen Sie, was ich in meinem ersten Training hier gemacht habe? Das war die einzige Einheit, die wir vor dem nächsten Spiel hatten, aber wir sind nur taktisch gelaufen. Ohne Ball. Und dann haben wir vom ersten Tag an ein wirklich ordentliches Pressing gespielt. Wobei – wenn wir gesagt hätten, wir gewinnen das Spiel, wenn wir alle mit dem Kopf dreimal gegen die Wand hauen, hätten alle wie wild ihren Schädel gegen die Wand geschlagen.

Haben Sie eine Idee vom perfekten Fußball?

Wenn eine Mannschaft mit der Qualität von Real Madrid nicht nur marschiert, wenn sie selbst den Ball hat, sondern auch dann, wenn der Gegner in Ballbesitz ist. Der englische Fußball kommt meinem Ideal sehr nahe, auch weil die Atmosphäre in den Stadien wirklich großartig ist. Ich kann mir Übertragungen aus der englischen Liga anschauen ohne Bild. Nur Ton. Das geht. Das ist einfach genial.

Wie nah können Sie Ihrem Ideal mit einer Mannschaft wie Mainz kommen?

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Für mich ist ideal, was ich im Moment hier habe. Ich orientiere mich nicht an dem, was ich gerne hätte. Ich möchte keine zehn Millionen in der Hand haben und sagen: Ich kauf’ jetzt. Ich habe viel mehr Spaß, den Jungs das Gefühl zu vermitteln, dass sie regeln können, was ihnen bevorsteht. Die haben nämlich noch gar keine Ahnung, wie gut sie eigentlich sind.

Könnten Sie diese Begeisterung auch bei einem anderen Verein empfinden?

Meine Begeisterung ist nicht ortsgebunden. Fußball ist ein unfassbar geniales Spiel. Ich kann mir wenig vorstellen, das besser ist, als jemanden mit Ball umzugrätschen – bapp –, aufzustehen und weiterzuspielen. Das ist großartig. Die Jungs haben alle mit vier, fünf Jahren angefangen, weil sie Fußball spielen wollten, und nicht, weil sie gesagt haben: Ich kann damit Geld verdienen. So gehen wir die Sache an: Wir spielen so, wie wir es wollen.

Das ist eine sehr idealistische Sicht.

Warum? Ich glaube nicht, dass sich meine Liebe zum Spiel irgendwann umwandeln wird in eine Hassliebe, weil aus dem Fußball ein Geschäft wird. Fast alle Menschen sind begeisterungsfähig. Wenn sie ins Stadion gehen, wollen sie hinterher auch sagen: Was war das denn heute?

Unter welchen Voraussetzungen könnten Sie sich vorstellen, Mainz zu verlassen?

Es gibt viele Möglichkeiten. Und das Wichtigste ist: Ich werde diesen Verein verlassen. Irgendwann. Weil ich einfach auch etwas anderes erleben möchte. Ein anderes Land zum Beispiel. Wenn man so lange bei einem Verein ist wie ich in Mainz, glauben manche Leute, ich hätte Fußangeln. Aber die habe ich nicht. Nur, im Moment ist das hier meine Aufgabe, die ich genieße ohne Ende, der ich mich verpflichtet fühle ohne Ende, und der Verein soll davon profitieren. Auf Jahre.

Wann hört diese Verpflichtung auf?

Bei Vertragsende. Möglicherweise.

Ihre Lebensplanung ist es nicht, der Volker Finke von Mainz zu werden.

Nein. Was Volker Finke in Freiburg macht, ist wunderbar. Aber ich bin nicht Volker Finke. Ich bin 37, befinde mich gerade in den 25 Powerjahren meines Lebens. Insofern habe ich noch was vor mir.

Sie gelten wie Finke als alternativer Trainer.

Ehrlich gesagt krieg’ ich das gar nicht so mit. Ich hab sogar gedacht, dass über unsere Fahrt nach Schweden viel extremer berichtet würde. Vielleicht bekomm’ ich das irgendwann mal aufs Brot geschmiert: Hätte der lieber mal eine Woche mehr trainiert … Aber man kann sein Bild sowieso nicht beeinflussen. Mir hat ein Kumpel mal einen Bericht über mich geschickt, Überschrift: Der Geile von der Sonnenbank. Ich war in meinem Leben nicht einmal auf der Sonnenbank. Das andere, das gebe ich zu, bin ich ab und zu. Wie jeder andere Mensch auch.

Spüren Sie Vorbehalte, weil Sie als klüger gelten als der normale Fußballer?

Das habe ich noch nicht festgestellt. Ich weiß auch nicht, ob ich klüger bin als der normale Fußballer.

Sie haben ein abgeschlossenes Studium.

Dafür muss man nicht klug sein. Dass ich das Studium abgeschlossen habe, sagt mehr über meinen Einsatzwillen aus als über meinen Intellekt.

Das Gespräch führten Stefan Hermanns und Friedhard Teuffel.

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