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Sport: Mit Sonne und Wind im Rücken

1903 wurde in Altona der erste „Meisterschafts-Club“ des DFB gesucht – und gefunden

Berlin. Die Sache war peinlich, die Zuschauer amüsierten sich köstlich. Kurz bevor Schiedsrichter Franz Behr das Finale in Altona anpfeifen wollte an diesem 31. Mai 1903, einem heißen Pfingstsonntag, an dem vor hundert Jahren der erste „Meisterschafts-Club des Deutschen Fußball-Bundes“ gekürt werden sollte, fehlte auf einmal ein funktionstüchtiger Ball. Der eigentlich vorgesehene hatte Luft verloren. Aber der Mann mit dem Bowlerhut reagierte schnell und schickte jemanden in ein Sportgeschäft ins nahe Hamburg. Hechelnd kam der Bote zurück, mit einem englischen Qualitätslederball unter dem Arm. So begann das erste Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft – nicht wie vorgesehen um 16 Uhr, sondern mit einer Dreiviertelstunde Verspätung.

Es war nicht das einzige Provisorium. Das Fußballfeld auf der Exerzierweide in Altona hatte Behr eigenhändig mit Holzlatten und Tauen umzäunt, die nötigen Markierungen auf dem Rasen hatte ein Vereinskamerad mit Sägemehl gestreut. Ein Stadion gab es ja noch nicht in Deutschland, von Zuständen wie in England ganz zu schweigen. Dort hatte, wie berichtet wurde, das sagenumwobene Cup-Final anno 1902 vor 130 000 zahlenden Zuschauern stattgefunden.

Spaziergänger auf dem Platz

Damit konnten sie in Altona nicht mithalten. Dort waren sie schon heilfroh, wenn sie einmal ein offizielles Fußballspiel durchführen konnten, ohne dabei wildfremde Passanten umzurennen, weil ein Kiesweg für Spaziergänger das Spielfeld querte. Und Behr sowie der veranstaltende Altonaer FC 93 waren mit der Resonanz auch nicht gerade unzufrieden. Immerhin 473 Besucher standen da, jeder von ihnen hatte eine Reichsmark Eintritt gezahlt in den großen Teller, den Behr ihnen hingehalten hatte.

Als amüsanten Pfingstausflug betrachtete die feine Gesellschaft dieses Spiel, das keiner so recht kannte. Aber es war vieles neu in diesem turbulenten Jahr. Gerade hatten, so wurde aus den USA gekabelt, die Gebrüder Wright ihren ersten motorisierten Flug zustande bekommen, und auch die Gründung des ADAC verhieß Aufbruch in modernere Zeiten. Jedenfalls hatte sich das Publikum schwer in Schale geworfen: Die Männer trugen tadellos geschnittene Anzüge, und die Frauen beeindruckten mit bunt besteckten Hüten, die nicht selten den Umfang von Wagenrädern besaßen.

Die Finalpaarung lautete: Deutscher Fußball-Club Germania aus Prag, kurz DFC, gegen VfB Leipzig. Die Leipziger hatten sich durch Siege gegen den Berliner T.u.FC Britannia (3:1) und Altona 93 (6:3) noch sportlich qualifiziert, Prag kam über den grünen Tisch ins Finale. Die Entscheidungen traf der weißbärtige DFB-Präsident Professor Ferdinand Hueppe. Und der war, welch Zufall, gleichzeitig Vorsitzender des DFC Prag.

„Prag hatte Wahl“, heißt es in einem zeitgenössischen Spielbericht, „und zog es vor, mit Sonne und Wind im Rücken zu spielen. In ziemlich scharfem Tempo stattete Prag sofort dem Tor der Leipziger einen Besuch ab, und nur knapp vermag Raydt zu retten. Von einem Gedränge vor dem Tor aus konnte Prag um 5.07 Uhr zum ersten Mal einsenden, und lauter Jubel seiner wenigen Anhänger belohnte diesen Erfolg. Leipzig, hierdurch aufgerüttelt, eröffnete eine Reihe von heftigen Angriffe auf das Prager Goal, aber alle Mühe war umsonst: Mehrere Eckbälle konnten nicht verwandelt werden. Schließlich gelingt es dem Leipziger Centrehalf, durch einen scharfen Schuss das ausgleichende Goal zu erzielen“. 1:1 stand es also zur Halbzeit.

Nur faule Ausreden

Nach Wiederanpfiff aber schoss der VfB schnell zwei Tore, und nach dem 3:2-Anschlusstreffer Prags „trat der Zusammenbruch der Prager Mannschaft unhaltbar ein. In der Zeit von vier Minuten können Stany und Riso drei Goals erzielen, und selbst die unfaire Spielweise des Herrn Kobitsek vom DFC konnte die Durchbrüche der Leipziger nicht verhindern.“ Am Ende hieß es 7:2 für den ersten Deutschen Meister VfB Leipzig. Die Prager präsentierten sich als schlechte Verlierer. Nach dem sechsten Gegentreffer verließ Mittelstürmer Meyer lustlos das Spielfeld, kehrte erst nach gutem Zureden wieder zurück auf den Rasen.

Günter Grass hat die Umstände dieses ersten Endspiels um die Deutsche Fußballmeisterschaft in seinem Band „Mein Jahrhundert“ gewürdigt, weil dieser Pfingstsonntag 1903 den Beginn einer Massenbewegung markiert. „Schon damals“, heißt es in der kleinen Erzählung des Literatur-Nobelpreisträgers, in der er die Geschehnisse aus der Sicht eines Leipziger Funktionärs schildert, „als der VfB Leipzig klar und unbestritten als deutscher Meister galt, war manch ein Journalist versucht, sein Süppchen in der Legendenküche zu wärmen. Jedenfalls hat sich das Gerücht, die Prager hätten in der Vornacht auf Sankt Paulis Reeperbahn mit Weibern rumgesumpft und wären deshalb, besonders in der zweiten Halbzeit, so flau im Angriff gewesen, als Ausrede erwiesen“.

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