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Sport: Mumien auf Eis

Noch drei Monate: Wie sich Italiens Autometropole Turin auf die Olympischen Winterspiele vorbereitet

Der Nabel der Welt ist ein asphaltgraues Straßenoval von einem Kilometer Länge. Hier sind einst die Herren Ingenieure über die Köpfe der Arbeiter hinweggebrettert, auf dieser Teststrecke haben sie ihren Fiat 500 durch die Steilkurven gejagt, um zu sehen, was er aushielt. Hier, auf dem Dach des ersten großen Fiat-Werks, stand man über Alltag und Produktion; die Welt lag einem zu Füßen. Zum Greifen nahe waren Gipfel der Alpen.

Doch der damals hypermoderne „Lingotto“ hat als Autowerk seit 23 Jahren ausgedient, er ist – Konsum statt Produktion – zum Einkaufstempel geworden. Oben, noch über dem Dach, hat Renzo Piano eine grünliche Glasblase geschaffen. Hier tagen die Fiat-Chefs von heute und die Industriearistokraten: auf einer kuchentellerartigen Plattform daneben lassen sie ihre Hubschrauber landen. Die Teststrecke ist verwaist, die Alpen sind nicht zu sehen. Es ist Smog, Alltag im herbst- und winterlichen Turin. Zu viele Autos eben.

In der Fiat-Krise der vergangenen Jahre haben viele Arbeiter ihren Job verloren, Tausende sind fortgezogen, eine ganze Stadt krempelt sich um. Aber der Lingotto soll demnächst wieder zum Nabel der Turiner Welt werden. 10 000 Journalisten werden von hier aus über die XX. Olympischen Winterspiele berichten. Nebenan steht die große Stahl-Glas-Halle für den Eisschnelllauf. Die Bahnlinie davor, die Turin derzeit noch in zwei Hälften zerschneidet, kommt eines Tages unter die Erde, aber weil dieses Projekt bis zu den Spielen nicht zu schaffen war, überspannt sie fürs Erste ein Fußgängersteg, der sich drüben im Olympischen Dorf verliert.

Turin lässt sich sehen. Drei Monate vor der Eröffnung der Spiele am 10. Februar kommenden Jahres führt das Organisationskomitee (Toroc) vor, dass es durch erfolgreiche Arbeit alle Kritik und jegliche Befürchtung hinsichtlich eines „italienischen Organisationschaos’“ widerlegt sieht: „Es ist praktisch alles fertig“, sagt der Geschäftsführende Direktor Cesare Vaciago. Er lächelt, schnauft dabei aber so flach und hektisch, als stünde er knapp vor dem Herzinfarkt: „Wir haben jetzt 90 Tage Zeit, uns zu fragen, was wir eventuell vergessen haben.“

Alles Vergangenheit also – das Missgeschick mit der Bobbahn beispielsweise, die wegen unvermuteter Asbestfunde ihren Standort wechseln musste und auf deren Neubau bei den Probeläufen schwere Unfälle passierten; der Baustaub in den Eislaufhallen, der nach Ansicht mancher Trainer schon das Aus für ihre Wettbewerbe bedeutete; das Budgetloch von 180 Millionen Euro, das im Frühjahr die Finanzpolizei auf den Plan rief und zum Rauswurf zweier Manager führte. Jetzt fehlen „nur noch“ 46 Millionen Euro, und Vaciago ist sich sicher, dass er die „mit fortgesetztem Druck auf unsere Regierung“ auch noch zusammenbekommt. Und wenn nicht? „Naja, diese 1,5 Prozent vom Gesamtetat…“

Und alle stellen sich die Frage, was von dem Milliardenaufwand bleibt. „Die U-Bahn auf jeden Fall“, sagt Toroc-Direktor Vaciago, „dazu bekommt Turin eine Architektur von Weltrang, zum Beispiel die Eishockeyhalle von Arata Isozaki. Und eine weltweite, durchs Fernsehen vermittelte Bekanntheit.“ Bei einigen der eigens errichteten Sportstätten ist die teure Nachnutzung immer noch offen; für eine städtische Anlage indes scheint sich soeben ein Nachmieter gefunden zu haben: Turins Ägyptisches Museum, das größte seiner Art nach Kairo, leidet unter Platzproblemen. Und so werden wohl dort, wo Anni Friesinger, Sabine Völker, Claudia Pechstein & Co. auf ihren Schlittschuhen um Gold rennen, hinterher ein paar Mumien auf Eis gelegt.

Eine Million Tickets gibt es für die Spiele, bis zu 850 000 davon will Toroc verkaufen; gut 500 000 sind schon weg. 400 000 Karten sind im Ausland verkauft worden, 80 000 in der Region Piemont um Turin herum. Im großen Rest Italiens, gibt Toroc-Direktor Vaciago zu, wo man unter Sport in erster Linie Fußball versteht, hätten die Schnee- und Eisfestspiele noch nicht die rechte Begeisterung ausgelöst. Aber er kenne seine Italiener, sagt Vaciago. Römer oder Neapolitaner beispielsweise wachten einfach später auf; „das ist lediglich ein Last-Minute-Problem“.

Einstweilen trägt die Begeisterung der Turiner. Für alle möglichen unbezahlten Hilfs- oder Organisationsdienste hat man 26 000 Freiwillige gesucht – knapp doppelt so viele haben sich gemeldet. 8000 Piemontesen haben ihre Ferienwohnungen oder Zweithäuser in den Alpen freigegeben und damit 32 000 Übernachtungsplätze geschaffen. Beständig von Neugierigen umlagert sind jene Plätze der einstigen italienischen Königsstadt, die sich für Olympia herausputzen.

Die olympischen Ski-Wettbewerbe finden oben in den Bergen statt. Breit schlängelt sich das Susa-Tal durch das Grenzgebiet zu Frankreich. Hier ist schon Hannibal durchgezogen; noch heute, 2223 Jahre danach, führen die Gemeinden seine Elefanten im Wappen. Einen Sommer lang war es hier still, weil der Autobahntunnel von Fréjus nach dem Brand im Juni geschlossen wurde. Umso stärker hören und riechen die Einwohner nach der Wiedereröffnung den Unterschied: „Stoppt die Lastwagen!“, steht an jeder Scheunenwand, und weil sie in ihrem Tal zu den 3800 Lastern pro Tag nicht noch mehr Verkehr wollen, machen die Menschen gegen die geplante Hochgeschwindigkeitsbahn Turin - Lyon mobil. Neulich ist sogar ein Sprengsatz an der Staatsstraße gefunden worden, und Andrea Gamba, einer der Olympia-Bauleiter dort oben, rechnet „durchaus damit, dass die Leute während der Spiele weiter demonstrieren. Sie fallen dann einfach stärker auf. Sagen wir mal so: Die Polizei ist gewarnt.“

Schon heute bewacht das italienische Heer die Baustellen. Welche Abwehrmaßnahmen darüber hinaus getroffen worden sind, dazu will Toroc-Direktor Vaciago „wegen Vertraulichkeit“ nur so viel sagen: Mindestens 80 Millionen Euro und 7500 Mann seien im Einsatz, um „das größte Unternehmen dieser Art in Italien zu den sichersten Spielen aller Zeiten“ zu machen. Mehr Sorgen, so erklären Vaciago, Polizei und Sportverbände einstimmig, machten sie sich schon wegen der drohenden Verkehrsprobleme: Bis zu hundert Kilometer liegen die Ski-Arenen von Turin entfernt, teils sind sie nur auf kehrenreichen Bergstraßen erreichbar, ein Schneesturm könnte den ganzen Olympia-Fahrplan verwehen. „Deswegen haben wir nicht nur zwei Olympische Dörfer dort oben eingerichtet; die Abfahrts- und Slalomläufer in Sestriere können sogar vom Hotel zu Fuß auf ihre Pisten gehen“, sagt Toroc-Direktor Vaciago. „Darüber hinaus tun wir alles, um die private Anreise der Zuschauer zu verhindern. Sonst kriegen wir tatsächlich die Krise.“

Immerhin hat es die Angst vor einem Verkehrskollaps mit sich gebracht, dass die Wettkampfstätten in den Bergen vergleichsweise klein ausgefallen sind. Betonsüchtige Eingriffe in die Umwelt, wie sie 1992 im nahen französischen Albertville so heftig kritisiert worden waren, sind um Turin herum nicht zu sehen. In Pragelato hat man einen Hang gefunden, der mit seinen natürlichen Formen für die Sprungschanzen wie gewachsen erscheint; die Snowboard-Pisten in Bardonecchia fügen sich nahezu unauffällig in ein traditionelles Skigebiet ein, und in der 2035 Meter hoch gelegenen Hotelstadt Sestriere, wo seit der Gründung durch die Agnellis 1937 ohnehin schon alles erschlossen ist, was irgend zu erschließen war, bewegt sich Olympia weitgehend auf den bewährten Weltcup-Pisten.

Tribünen sind jeweils für 6000 bis 8000 Zuschauer vorgesehen; die Skiverbände haben ob dieser geringen Zahl zwar gemault, aber andererseits tragen sie einen Zeitplan mit, der ohnehin mehr auf die Fernsehübertragungen abzielt als auf die Zuschauer am Ort: Skispringen, Slalom, Snowboard, vieles sei zur Abendsportart geworden, sagt Giorgio Deiana vom Toroc-Pressestab. „Unter künstlicher Beleuchtung gibt das ganz tolle, spektakuläre Effekte.“ Schon – aber die Tausenden an Hängen und Pisten frieren abends stärker, als sie in der Mittagssonne frieren müssten. „Das stimmt“, gibt Deiana zu, „aber im Fernsehen…“

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