zum Hauptinhalt

NACHSPIEL Zeit: 10 000 Kilometer für ein Fernsehbild

Harald Martenstein ist nah dran an der WM – und könnte genauso gut auf den Fidschi-Inseln sein

Zunächst einmal: Dies wird vor dem Spanien-Spiel geschrieben, und ich bin kein Sportreporter.

Das Schöne am Fußball besteht darin, dass er vollkommen unvorhersehbar ist. Ich glaube, dass es in Wirklichkeit überhaupt keine Fußballexperten gibt, so wenig wie Lottoexperten. Sobald eine Mannschaft über drei oder vier Spiele Erfolg hatte, können einem die angeblichen Experten bis ins Detail erklären, warum es so und nicht anders kommen musste. Es klingt alles ganz logisch. Im nächsten Spiel kommt es dann häufig anders herum. Die Fußballexperten erklären, wie Historiker, vieles nur im Nachhinein, nie im Voraus.

Zwischendrin stand alles kurz auf der Kippe – schon vergessen? Nach der deutschen Niederlage gegen Serbien hatte man das Gefühl, dass sich am Spielfeldrand Matthias Sammer und die „Bild“-Zeitung schon als neues Bundestrainer-Team warmlaufen. Nach Lena und Stefan Raab sind Joachim Löw und Oliver Bierhoff bereits die zweite Truppe, die trotz Distanz zu „Bild“ international abräumt. Womöglich ist ja ein gelegentliches Nein zu „Bild“-Exklusivinterviews das Geheimnis historischer deutscher Erfolge.

Oder lag es am Wetter?

Die afrikanischen Experten sagen: Wegen des kühlen Wetters sind die afrikanischen Teams ausgeschieden. Weil es kalt ist, gewinnen immer die Deutschen.

Ich bin kein Experte. Ich war überrascht über die Reporterplätze in den südafrikanischen Stadien. Auf fast jedem Platz steht ein Bildschirm. Dort läuft die Übertragung des Spiels, also genau das, was jeder andere Zuschauer auf der Welt auch sieht.

Anders geht es nicht. Die umstrittenen Bilder eines Spiels erkennt man nicht immer mit bloßem Auge. Auch nicht die Tränen Maradonas. Das versteinerte Lächeln von Michael Ballack auf der Tribüne. Ob ein Foul wirklich ein Foul war, kann auch der Sportreporter im Stadion manchmal erst entscheiden, nachdem er die Zeitlupen-Wiederholung gesehen hat.

Ist das nicht verrückt? Man reist 10 000 Kilometer, um vielleicht am Ende auch mal auf ein Fernsehbild zurückzugreifen, das man sich auch zu Hause hätte anschauen können.

Die Sportreporter bedienen eine Illusionsmaschine. Die euphorische Stimmung zu Hause kennen sie nur vom Hörensagen, die Expertenrunden im deutschen Fernsehen wären sicher interessant, und bestimmt gibt es auch längst eine Feuilletondebatte zum neuen Deutschlandbild in der Welt, oder etwa nicht? Das alles bekommt man hier nur am Rande mit, das Reisen und die Organisation des Alltags schlucken viel Zeit. Die Sportreporter besuchen die Pressekonferenzen des DFB, irgendjemand entscheidet darüber, welcher Spieler dort auftritt. Aber die Pressekonferenz wird ebenfalls im Fernsehen übertragen, und auch das Mienenspiel von Joachim Löw kann man im Fernsehen zuweilen besser erkennen als von einer hinteren Reihe des Konferenzsaales.

Ich müsste nicht hier sein, haben Sportreporter mir gegenüber im privaten Gespräch gesagt. Vielleicht sind ja manche nur hier, weil das Publikum an etwas glaubt, was es nicht mehr gibt, an dieses altmodische „ich war dabei, deshalb weiß ich es besser“. Die Maschinen können aber längst viel genauer beobachten als der Mensch, nur das Denken müssen wir immer noch selber erledigen. Wer aber lediglich die Tränen von Maradona oder Ballacks Lächeln zu interpretieren hat, könnte diese Arbeit auch auf den Fidschi-Inseln tun.

Ach. Ich wäre so gerne wieder in Deutschland. Da soll es angeblich ganz schön abgehen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false