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Die deutschen Meisterschaften im Schwimmen finden vom 1. bis 4. Mai im Berlin statt.

© imago sportfotodienst

Nationale Meisterschaften in Berlin: Zeit zum Auftauchen für die deutschen Schwimmer

Das Jahr 2014 soll für das deutsche Schwimmen die Wende zurück zum Erfolg bringen. Doch die Sportart kämpft weiter mit vielen Hindernissen.

Auf Bahn 2 schwimmt die Gegenwart, auf Bahn 1 die Zukunft. Nur die weiß-rote Leine aus Plastik trennt die fliegenden Arme und Beine der Schwimmer des Olympiastützpunkts Potsdam von zwei kleinen Mädchen, die ihren Kopf gerade so über Wasser halten können. Die Halle des Stützpunkts ist wegen Einsturzgefahr seit Monaten geschlossen, deswegen ist die Trainingsgruppe der beiden Trainer Jörg Hoffmann und Norbert Warnatzsch an diesem Tag ins Potsdamer Bad am Brauhausberg ausgewichen. Das Becken teilt sie sich mit Anfängern, auf der Tribüne lärmt eine Schulklasse in neongrünen Warnwesten.

Eigentlich sollte die volle Konzentration der Potsdamer Schwimmer der deutschen Meisterschaft in der kommenden Woche und der Heim-EM im August gelten. Und der Vorbereitung auf das Fernziel, das immer näher kommt, Olympia 2016 in Rio de Janeiro. Eigentlich sollten sie in ihrer eigenen Halle trainieren. Stattdessen wissen Cheftrainer Hoffmann und sein erfahrener Berater Warnatzsch immer nur ein paar Tage im Voraus, wo und wann sie trainieren können. Dann sammelt Hoffmann seine Athleten mit einem Kleinbus frühmorgens vor der Sportschule ein und fährt sie durch die Stadt.

Eigentlich geht es für das deutsche Schwimmen im Jahr 2014 um viel. Trotzdem kämpfen Trainer, Verantwortliche und Sportler gegen viele Hindernisse.

Hoffmann und Warnatzsch lamentieren nicht. „Natürlich ist die Situation nicht optimal“, brummt Hoffmann, der frühere Weltmeister. Stadt, Bundeswehr und Potsdamer Bäderbetriebe täten aber ihr Bestes, um den Schwimmern mit Trainingszeiten auszuhelfen. Warnatzsch war Trainer der DDR-Nationalmannschaft, Leitender Trainer am Olympiastützpunkt Berlin, er hat Franziska van Almsick in die Weltspitze geführt, mit ihm ist Britta Steffen zur zweifachen Olympiasiegerin und Weltmeisterin geworden. Der 67-Jährige weiß, wie man Schwimmer zu Siegern macht. Darum sagt er auch: „Natürlich ist es frustrierend.“

Frust war das dominierende Gefühl bei den deutschen Beckenschwimmern in den vergangenen Jahren. Frust über keinen einzigen Podestplatz bei Olympia in London, Frust über eine mickrige Bronzemedaille bei der WM 2013 in Barcelona. Frust darüber, dass die einstige Schwimm-Großmacht in Europa und der Welt den Anschluss verloren hat. Einigkeit gibt es im deutschen Schwimmen kaum, aber viele Experten glauben: In den vergangenen Jahren ist zu wenig und nicht hart genug trainiert worden. Viele Strukturen sind nicht optimal, es gab lange keine gemeinsame Linie. Die Probleme sind erkannt, die Lösungen aber oft kompliziert.

Gerd Eßer ist Herr über seine eigene Schwimmhalle, die täglichen Umzugsprobleme seiner Potsdamer Kollegen brauchen ihn nicht zu kümmern. Richtig zufrieden wirkt der Leiter des Berliner Bundesstützpunkts trotzdem nicht, wenn er von seinem kleinen Büro auf der Empore der Schwimmhalle des Sportforums Hohenschönhausen auf das Becken blickt. Es gibt viel zu tun.

„2014 ist ein sehr wichtiges Jahr. Wir befinden uns ja nicht mehr in einer dominanten Position“, sagt Eßer mit Nachdruck. Ein Umdenken sei notwendig. „Wir müssen versuchen, die Grundlagen im Schwimmen deutlich zu verbessern. Wir müssen sehen, was im Rahmen des Leistungssports in Deutschland geht.“

In Berlin geht es ab dem 1. Mai um Meistertitel - und mehr

Die deutschen Meisterschaften, die vom 1. bis zum 4. Mai in Berlin ausgetragen werden, sollen ein erstes Indiz dafür sein, ob Eßer und seine Kollegen auf dem richtigen Weg sind. Bei der EM im August, ebenfalls in Berlin, soll sich zeigen, was die deutsche Elite im Vergleich mit der europäischen Konkurrenz leisten kann. „2014 ist ein Schaltjahr. Ein Findungsprozess. Um zu prüfen, was in diesem Jahr erreicht wurde“, sagt Eßer. „Um in Richtung der Olympischen Spiele 2016 und 2020 zu gucken, was wir noch verbessern müssen. “ Viele Trainer seien zuletzt „einem Sog der Minimalisierung“ erlegen, man habe versucht, vor allem effektiv zu trainieren. „Dabei hat man vergessen, dass in einer Ausdauersportart wie Schwimmen gewisse Trainingsstunden einfach notwendig sind“, sagt Eßer.

Hart trainieren, viel trainieren – das wird auf dem Weg zurück in die Weltspitze kaum reichen. Die Probleme des deutschen Schwimmens liegen tiefer. Wenn Sportler mit 14 Jahren an die Stützpunkte in Potsdam, Berlin oder anderswo kommen, hängen sie der internationalen Konkurrenz oft schon hinterher. „Die Ausbildungsgrundlage ist nicht ausreichend“, sagt Eßer. „Wir kommen in der Spitze nur voran, wenn wir die Nachwuchsförderung verbessern – und die beginnt im Schwimmen in der dritten Klasse.“

Deswegen hat der neue Chef-Bundestrainer Henning Lambertz ein Perspektivteam ins Leben gerufen. Deswegen haben sich Jörg Hoffmann und Norbert Warnatzsch ins Präsidium des Landesschwimmverbands Brandenburg wählen lassen. Deswegen ärgert es Warnatzsch auch nicht, sich die Bahnen mit kleinen Mädchen teilen zu müssen, die ihren Kopf gerade so über Wasser halten können.

Kaum eine Sportart verliert auf dem Weg zur Spitze so viele Athleten

Talentierte Schwimmer sollen früher gezielt gefördert werden. Das Problem ist, dass nicht jeder sich fördern lässt, gerade im Schwimmen. Kaum eine Sportart verliert auf dem Weg zur Spitze so viele Athleten. „Es ist in Deutschland aber ein generelles Problem: Die Bereitschaft, sich den notwendigen Belastungen zu stellen, wird immer geringer“, sagt Eßer. „Es gibt viel Spaß und Fun, das ist in den Köpfen drin. Und wenn es dann hart wird, fehlt da etwas – aber Schwimmen ist nun mal eine Sportart, in der man sich sehr viel überwinden muss.“ Sieben oder acht Kilometer im Becken, „da muss man wirklich den Willen haben, das machen zu wollen“.

Hinzu kommt die Regeneration, die richtige Ernährung. Das erfordert viel Zeit, viel Freizeit, viele Opfer. „Es wird immer schwerer, junge Sportler davon zu überzeugen, dass sie diese Zeitfaktoren aufbringen müssen“, sagt Gerd Eßer. „Aber das ist das Gesamtpaket Leistungssport.“ Wenn es 2016 in Rio de Janeiro wieder deutsche Medaillen geben soll, müssen erst einmal mehr deutsche Schwimmer als zuletzt die Endläufe erreichen, eine breite Mannschaft soll entstehen, nur dann werden auch einzelne Spitzenschwimmer dabei sein. Gerd Eßer weiß, wie schwer das wird. Und was er von seinen Athleten verlangen muss: „Wir brauchen sehr, sehr starke Anstrengungen in den nächsten zweieinhalb Jahren. Wir haben aber Sportler, die sich diesen Dingen stellen.“

Olympia, Weltmeisterschaft: Zuletzt dominierte der Frust

In Potsdam steht Jörg Hoffmann von der Bank am Beckenrand auf, der 44-Jährige reibt seine drei Stoppuhren am schwarzen T-Shirt trocken, das sich über seinen immer noch mächtigen Brustkorb spannt. Parallel zu seinen Schwimmern geht der 1,97-Meter-Mann mit dem schwarzen Vollbart am Becken auf und ab, ruft ihnen Zeiten zu. Warnatzschs Stoppuhren liegen vor ihm auf einem Klemmbrett, auf einem Zettel notiert er Zwischenzeiten. „Is ’n harter Job“, sagt Warnatzsch und meint damit, was seine Athleten vor ihm im Becken leisten. „Wir gehen aber davon aus, dass alle wollen. Wir brauchen hier nicht die Peitsche zu schwingen. Machen wir auch nicht.“

Der 19 Jahre alte Maximilian Bock, Spezialist für die 1500 Meter Kraul, schwimmt gerade eine Serie, die in seinem persönlichen Trainingsplan schlicht als „3 x 20 x 100 F“ verzeichnet ist. 20 Mal schwimmt Bock 100 Meter Freistil, das ganze drei Mal. „Einsnullfünfeins“, ruft ihm Warnatzsch nach zwei Bahnen zu die Zwischenzeit zu – eine Minute, fünf Sekunden, ein Zehntel. Zwei Bahnen später: „Einsnullzwo, nur noch vier.“ Dann: „Einsnulleins. Puls! Abnahme!“ Bock klettert aus dem Wasser und lässt sich Blut abnehmen, um seinen Laktatwert zu ermitteln. Sein Brustkorb – mächtig, aber nicht ganz so mächtig wie der von Hoffmann – hebt und senkt sich. Dann steigt er wieder ins Becken, die nächsten 20 x 100 F warten.

Warnatzsch gibt zu, dass die Konzentration auf das Wesentliche in Zeiten von Smartphones und sozialen Netzwerken im Internet nicht allen leicht fällt. Auch in Hohenschönhausen verkündet ein Zettel am Halleneingang, ein „Verbot von Handys/Smartphones“ in allen Trainingsräumen. „Die Ablenkung ist natürlich sehr groß, die Gefahr des Verzettelns“, sagt Norbert Warnatzsch. Mit kleinen Tricks versucht er, die jungen Schwimmer für das Training, ihre Fortschritte und den eigenen Körper zu begeistern. Sie bekommen einen Euro von ihrem Trainer, wenn sie ihren Laktatwert auf eine Kommastelle genau tippen. „Ich denke noch nach“, sagt einer der Schwimmer. „Na, das kann ja dauern, du hast ja nicht mal Abitur“, sagt Warnatzsch gutmütig.

Natürlich sei es schwieriger geworden, Jugendliche davon zu überzeugen, ihr Leben dem Sport zu verschreiben, sagt Warnatzsch. Trotzdem wirkt er überzeugt von seiner Arbeit und seinen Schülern: „Die Quote wird geringer – aber es wird immer Kinder und Jugendliche geben, die leistungsorientiert sind.“ Im Becken schlägt Maximilian Bock an, zum 60. Mal, er hat die 3 x 20 x 100 F besiegt, seine letzten zwei Bahnen waren die schnellsten der gesamten Trainingseinheit.

„Neunundfünfzigneun“, ruft Norbert Warnatzsch ihm zu, mehr sagt er nicht. Aber er grinst und Bock grinst zurück.

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