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Neue Stadien: Verlorene Heimat

Moderne Fußball-Arenen sind austauschbar und normiert. Reinaldo Coddous Bildband "Fußballtempel" zeigt die Stadion-Vielfalt, die es früher einmal gab.

Bei unserer letzten Zusammenkunft machte Reinaldo Coddou einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck. Es war im Sommer, der Samstag, an dem Bayer Leverkusen seine neue Arena zum ersten Mal bespielte. Alles neu, alles modern, alles schön. Der Presseraum sah aus wie eine Lounge – und erst das Büfett! Wahrscheinlich irritierte Reinaldo all das, dieses Perfekte, Geleckte, Sterile. Am Abend zuvor war er in Paderborn gewesen, das neue Stadion fotografieren, jetzt Leverkusen, noch ein neues Stadion. Für ihn muss es ein Wochenende des Horrors gewesen sein.

Reinaldo war gerade erst zurück aus Südamerika, sechs Monate hatte er in Buenos Aires gelebt. In dieser Zeit kamen regelmäßig Mails von ihm, die die Speicherkapazität meines Postfachs sprengten. Reinaldo war dann wieder beim Fußball gewesen, hatte Liga- und Länderspiele gesehen, mit einigen der vielleicht besten Spieler der Welt. Aber seine Fotos zeigten keine Zweikämpfe, keine Kopfballduelle, keine Torschüsse. Stattdessen: marode Stadien, volle Ränge, ekstatische Fans, martialische Polizeikolonnen. Kurz: Es war der Wahnsinn.

Paderborn statt Buenos Aires, Leverkusen statt Rio de Janeiro – da kann man schon schwermütig werden. Reinaldo Coddou hatte Heimweh nach dem Wahnsinn. In deutschen Stadien gibt es den nicht mehr, man muss ihn da gar nicht erst suchen. Stadion heißt jetzt Arena, manchmal auch Park, was einen an Seniorenresidenzen denken lässt. Gesittet geht es zu, der Fußball ist gezähmt, die Stadien sind befriedet. Was bleibt, ist die Sehnsucht.

In „Fußballtempel“ von Reinaldo Coddou kann man dieser Sehnsucht nachspüren. Seit mehr als zehn Jahren fotografiert Coddou Stadien, und was als Stadionposter für das von ihm mitgegründete Magazin „11 Freunde“ angefangen hat, gibt es jetzt erstmals in Buchform: ein Kompendium mit 60 deutschen Stadien von Aachen bis Zwickau – im Panoramaformat, jeweils doppelseitig, auf 80 mal 30 Zentimeter. Ein in vieler Hinsicht gewaltiges Werk.

„Wer immer wieder Spiele im gleichen Stadion gesehen und dort mit seiner Mannschaft gelitten und gejubelt hat, dem wird sich der Ort einprägen“, schreibt Christoph Biermann in seinem Vorwort zu „Fußballtempel“. „Selbst wenn Stadien den Außenstehenden als traurig erscheinen mögen, sind sie sentimentale Orte.“ Mehr noch: Das Stadion ist die Heimat unserer Leidenschaft, und deshalb ist „Fußballtempel“ auch ein Heimatbuch. Genauso aber erzählen Coddous Bilder vom Verlust unserer Heimat.

Eine Kollegin hat vor kurzem erzählt, dass sie seit 1990 über Fußball schreibt und dass von all den Stadien, aus denen sie berichtet habe, nur noch eins so aussieht wie damals: das Ruhrstadion in Bochum. Alle anderen: abgerissen, umgebaut, modernisiert. „Wo der Stadionbesuch zum Event geworden ist, muss auch das Stadion ein Ereignis sein“, schreibt Christoph Biermann. Aber waren die Stadien nicht früher viel mehr Ereignis? Der Bökelberg mit seinen steilen Rängen, der Tivoli mit seinem S-Block oder das Gefängnis in Müngersdorf, das offiziell als Gästeblock geführt wurde? Jedes Stadion hatte sein spezielles Flair, sogar seinen eigenen Sound. Und heute? Wer Geld hat wie die Bayern, leistet sich eine markante Fassade, die Inneneinrichtung aber – das, was man in der Sportschau sieht – einförmig, normiert, verwechselbar.

„Die alten Stadien waren viel interessanter“, sagt Coddou. „Die modernen sind austauschbar. Die kann der Fan, der einmal bei einer Auswärtsfahrt da war, kaum voneinander unterscheiden. Da sieht ein Bauwerk aus wie das andere.“ In „Fußballtempel“ muss man nur einmal blättern, um die Gegenwart gegen die Vergangenheit zu schneiden: Betonschüssel versus Schmuckkästchen? Parkstadion gegen Schalke- Arena? Stadion an der Grünwalder Straße oder Allianz-Arena? Coddous Lieblingsbild ist eines des Mönchengladbacher Bökelbergs. Dezember 1998. Die Mannschaften laufen gerade aus dem Tunnel zwischen Nordkurve und Gegengerade ein, das Flutlicht brennt, Nebelschwaden ziehen über den Rasen, und über der Nordkurve wirbeln Papierschnipsel. „Ein Traum“, sagt Reinaldo Coddou.

Die Nebelschwaden haben sich längst auch über unsere Erinnerung gelegt. Den Bökelberg, das Stadion, das auch mein Stadion war, der Ort meiner Fußball-Leidenschaft, gibt es nicht mehr. Der Verein ist mit Sack und Pack an den Stadtrand gezogen, aufs platte Land, wo der Wind ungebremst über die niederrheinischen Felder pfeift und das Auge keinen Halt findet: Der Verein hat seine Heimat zurückgelassen, in der Hoffnung, eine neue zu finden. Hat er auch seine Seele mitgenommen?

Der Bökelberg ist abgerissen und gesprengt, vor ein paar Jahren schon. Er lag im besten Viertel der Stadt, wo Baugrund rar ist – und teuer. So teuer, dass die Grundstücke sich nur sehr schleppend verkaufen lassen. Ich weiß nicht, wie es jetzt da aussieht, wo einmal der Bökelberg stand. Auf dem Weg zur Autobahn müsste man nur einmal rechts abbiegen. Ich bin nie mehr dort gewesen.

Reinaldo Coddou H.: Fußballtempel. Edition Panorama Verlag, 192 S., 48 Euro

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