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Sport: Nicht hängen bleiben

Lehmann möchte seinen Platzverweis im Europacup-Finale schnell verdrängen

Durfte er? Jens Lehmann schien sich nicht ganz sicher. In englischen Pokalendspielen, das wusste er vom vergangenen Jahr, als Mitspieler José Antonio Reyes vom Platz geflogen war, werden Rotsündern die Medaillen verwehrt. Gab es diese Regel auch in Europa? Nein. Die Uefa erwies sich als weniger drakonisch. Oder sie hatte diese Eventualität vielleicht gar nicht bedacht, denn Lehmann war ja der erste Spieler überhaupt, der in einem Champions-League-Finale des Feldes verwiesen wurde.

Verbandspräsident Lennart Johansson schüttelte dem Deutschen freundlich die Hand. Gleich würde es bunt und laut werden, Lehmann aber wollte nur noch übersehen werden. Er trug ein graues Sweatshirt; seine langen Arme, die in der 17. Minute Samuel Eto’o so fatal umgerissen hatten, versteckte er hinter dem Rücken. Der große, breite Mann war zu einem dünnen Strich geworden. Als vertikales Minus-Zeichen betrat er den Siegerpodest; er stand also dort, wo er es sich vorher erhofft hatte. Nur leider zu früh. Den Pokal bekamen danach die Spieler des FC Barcelona.

Es war Lehmanns Schicksal, an diesem Abend immer zum falschen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. „Einen Tick zu spät“ war er nach eigener Aussage gegen Eto’o gekommen, das mistiming resultierte in einer ungewollten Notbremse. „Ich hatte noch eine kleine Chance gesehen, an den Ball zu kommen“, sagte er hinterher. Jedes einzelne Wort kostete Überwindung. Er stand vor den hunderten Journalisten immer noch ein bisschen neben sich, wenn auch schon etwas näher als unmittelbar nach Terje Hauges Pfiff. Der übte am Tag danach im norwegischen Radio Selbstkritik. „Ich muss zugeben, dass ich hätte warten müssen, wohin der Ball rollt“, sagte der Schiedsrichter, der auch auf Vorteil, Tor für Barcelona und die Gelbe Karte für Lehmann hätte entscheiden können.

Lehmann hatte nach seinem Foul einen Moment lang das Gefühl gehabt, das Missgeschick würde einem anderen, einem Dritten, widerfahren. „Meine Seele hat meinen Körper verlassen“, erzählte er ohne Pathos in der Stimme. „Besonders traurig“ fand er die Tatsache, dass Eto’os Ausgleich eine Abseitsstellung vorhergegangen war, aber er blieb in seiner Trauer ein guter Verlierer, der nicht zu sehr mit Hauge hadern wollte.

Thierry Henry dagegen flüchtete sich in Polemik. „Der Schiedsrichter hätte ein Barcelona-Trikot tragen sollen“, sagte der Arsenal-Kapitän, „so zu verlieren, mit zehn Mann, bringt dich um.“ Dabei hätte der Franzose den Pokal höchstpersönlich für seine aufopferungsvoll kämpfende Mannschaft gewinnen können. Zwei Mal war er frei vor Victor Valdés aufgetaucht, beim ersten Mal hielt Barcas Torwart hervorragend, beim zweiten Mal, der wohl entscheidenden Szene des Spiels, schoss er dem Keeper den Ball genau in die Arme.

So entschieden Eto’o und Juliano Belletti das Spiel innerhalb von fünf Minuten für Barcelona. „Diese Mannschaft hat Zukunft“, sagte Kapitän Carles Puyol. Bei späten, plötzlichen Toren spricht man gerne von einer Wende, in Wahrheit waren sie jedoch nur die trefflichen Antworten auf das „komplizierte Problem“ (Puyol), gegen dezimierte Londoner und deren 8-0-1-Taktik spielen zu müssen. Für so manchen Beobachter mögen Barcelonas unzählige Ballstafetten ohne Steilpass in der zweiten Halbzeit wie Hilflosigkeit ausgesehen haben. Auf diesem Niveau zählt jedoch allein die Qualität der Einfälle, nicht die Quantität. Drei richtig gute Chancen reichten für den Sieg, trotzdem wussten bis auf die mitgereisten Fans von der Insel alle, dass die richtige Mannschaft, die beste Elf des Wettbewerbs, gewonnen hatte.

Für Lehmann geht es weiter, bei Arsenal und natürlich auch bei der WM. Im Fußball, das ist ein Trost, dürfen die Toten bald wieder auferstehen. Lehmann erklärte, er sei „gut im Verdrängen“, wurde jedoch das mulmige Gefühl nicht los, dass etwas aus Paris „hängen bleiben“ könnte. Damit meinte er nicht seine silberne Medaille. „Dieses Spiel nehme ich wahrscheinlich mit ins Grab.“

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