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Sport: Nur Fliegen wär’ schöner

Amerikanische Studenten haben Quidditch, das magische Spiel aus der Harry-Potter-Welt, in die Realität übersetzt. Der Sport mit den Besen boomt in den USA – auch ohne Zauberei

Das Startkommando lautet „Besen hoch“. In den Harry-Potter-Romanen von Joanne K. Rowling würden sich die Quidditch-Spieler nun in die Luft schwingen – ihren Nacheiferern in der realen Welt ist das nicht vergönnt. Die beiden Mannschaften stürzen trotzdem aufeinander zu, ihre Besen dabei immer zwischen die Beine geklemmt. Bälle fliegen durch die Luft, Körper krachen gegeneinander, zwei Spieler hetzen einem ganz in Gold gekleideten jungen Mann hinterher. Was als fiktives Spiel in einem Buch anfing, hat sich innerhalb kürzester Zeit zu einem populären Sport entwickelt. An amerikanischen Schulen und Universitäten wird Quidditch für Muggel, wie Nichtmagier in der Potter-Welt heißen, immer beliebter. Im November kämpften 45 Mannschaften aus 16 US-Bundesstaaten sowie ein kanadisches Team mitten in New York um den vierten Weltmeistertitel. 20 000 Zuschauer verfolgten das zweitägige Turnier. Viele kamen eher zufällig am DeWitt-Clinton-Park von Manhattan vorbei. Und blieben mit offenen Mündern stehen.

„Man kann das Spiel schlecht erklären. Man muss es sehen, um es zu glauben“, sagt Alex Benepe. Der 24-Jährige ist Präsident der International Quidditch Association (IQA), des Dachverbands des jungen Sport. Und er war dabei, als Quidditch geboren wurde. Im Herbst 2005 schlug ihm sein Kommilitone Xander Manshel am Middlebury College in Vermont eines langweiligen Sonntags vor, Quidditch zum Leben zu erwecken. „Ich war sehr skeptisch: Wie sollte das funktionieren? Mit Besen?“, sagt Benepe. „Aber es hat von Anfang an Spaß gemacht.“ Nach und nach sprach sich herum, was das bizarre Treiben auf dem Campusrasen darstellen sollte, neue Spieler kamen hinzu, „auch wenn uns einige zunächst für völlig verrückt hielten“, wie Benepe sagt. Als Torringe benutzten die Studenten damals Mülltonnen, Spieler brachten Handtücher als Capes zu den wöchentlichen Partien mit – und benutzten Wischmopps oder alte Stehlampen als Besen.

Diese Zeiten sind längst vorbei, mittlerweile stellt eine Firma spezielle Quidditch-Besen her und tritt als offizieller WM-Sponsor auf. Das Modell „Phantom Seeker“ für 35 US-Dollar ist laut Eigenwerbung besonders für „Zauberlehrlinge“ geeignet, für das Premiummodell „Sienna Storm“ muss man 79 Dollar hinlegen.

Quidditch wächst. Mehr als 400 Colleges und 300 High Schools in den USA haben Teams aufgestellt oder sind gerade dabei, auch das Interesse im Ausland wird immer größer. „Es kommen immer mehr Leute, die mit den Büchern gar nicht viel am Hut haben“, sagt Benepe. „Meist sind das Fußballer, Footballer oder Leichtathleten, die einfach mal eine neue Sportart ausprobieren wollen.“ Auch Alicia Radford war früher einmal Basketballerin, heute sitzt sie im IQA-Vorstand und hat die WM in New York mitorganisiert. Vor zwei Jahren kam die 21-Jährige aus dem USBundesstaat Washington erstmals mit Quidditch in Kontakt, als sie einen Fernsehbericht über Middleburys Mannschaft sah. „Ich habe mich sofort in den Sport verliebt. Es sah aufregend, lustig und spannend aus – und ich wollte ein Teil davon sein“, sagt Radford. „Es dauert zwar eine Weile, bis man sich daran gewöhnt, mit einem Besen zwischen den Beinen zu laufen und nur eine Hand zum Werfen und Fangen zu haben. Aber irgendwann merkt man den Besen gar nicht mehr.“

Die Regeln sind fast dieselben wie in Rowlings Romanen – nur ohne Fliegen. Gespielt wird auf einem ovalen Feld in zwei Mannschaften mit je sieben Spielern, die sich auf mehrere Positionen verteilen. Männer und Frauen spielen in gemischten Teams, jeder hat eine feste Aufgabe: Die Jäger versuchen, die „Quaffel“ (Volleybälle) durch Torreifen zu werfen, um Punkte zu erzielen. Der Hüter, eine Art Torwart, muss genau das verhindern. Treiber werfen mit „Klatscher“ genannten Völkerbällen auf Gegner, um sie mit einem Treffer kurzzeitig aus dem Spiel zu nehmen. „Das ist nicht leicht zu durchschauen“, gibt Alicia Radford zu. „Es ist viel Action auf dem Feld.“ Bis zum ersten offiziellen Spiel zwischen Middlebury und einem Nachbarcollege im Jahr 2007 gab es nicht einmal offizielle Regeln.

Das hat Alex Benepe geändert. Er machte sich daran, ein mittlerweile 54 Seiten starkes Regelwerk auszuarbeiten, das dem Original aus der Potter-Welt Rechnung trägt, aber auch für Normalsterbliche spielbar ist.„Das Schwerste war, eine Lösung für den Goldenen Schnatz zu finden“, erinnert sich Benepe. In den Büchern ist der Schnatz ein etwa nussgroßer goldener Ball, der mit sirrenden Flügeln durch die Luft rast wie ein Kolibri mit Verfolgungswahn und von zwei Spielern verfolgt wird, die Sucher heißen. Fängt ein Sucher den Schnatz, bekommt er 150 Punkte und das Spiel ist beendet. Das bietet Harry Potter in den Büchern Gelegenheit zu vielen Heldentaten – und inspirierte die Regisseure der Potter-Filme zu spektakulären Kamerafahrten. Benepe fand eine Lösung für das Schnatz-Problem: Aus dem goldenen Ball machte er einen in Gold gekleideten, neutralen Spieler, der permanent auf der Flucht ist. Er gilt als gefangen, wenn ihm ein Tennisball abgenommen wird, der ihm in einer Socke aus der Hose hängt. Um das Spiel ausgeglichener zu machen, bekommt der erfolgreiche Sucher nur noch 30 Punkte.

„Wir hatten in Middlebury das Glück, einen Freund zu haben, der gleichzeitig Langstreckenläufer und Ringer war“, erinnert sich Benepe. „Er hatte eine tolle Kondition, konnte sich wehren, machte Flickflacks und Salti – der perfekte Schnatz.“ Der Mann in Gold darf das Spielfeld auch verlassen und durch die Zuschauerreihen laufen, die Sucher bleiben dabei auf seinen Fersen. „In New York war das Chaos kontrolliert“, sagt Radford. „Einigermaßen.“

Das nächste Ziel der IQA ist, Teams und Spieler offiziell zu registrieren und den Sport stärker zu organisieren. Im Frühjahr wird es sechs Turniere in verschiedenen Regionen der USA und in Kanada geben, der Sport soll zudem auf der ganzen Welt bekannt werden. „Wir waren zuletzt zweimal im japanischen Fernsehen, gerade haben uns Teams aus Finnland und Frankreich kontaktiert“, sagt Radford. „Der Wettbewerb soll größer werden, ohne dass der Spaß verloren geht. Wir wollen Quidditch beschützen.“

Radford und Benepe sind mit dem Harry-Potter-Universum aufgewachsen, das wird in kommenden Quidditch-Generationen anders sein. 2011 läuft der letzte Teil der Potter-Saga im Kino, eine Fortsetzung ist nicht in Sicht. Alicia Radford ist sich trotzdem sicher, dass ihr Sports noch populärer werden kann. „Das Spiel hat ein Eigenleben abseits der Bücher und Filme entwickelt“, sagt sie. Sie kann sich vorstellen, dass amerikanische Universitäten in wenigen Jahren Stipendien für Quidditch-Spieler vergeben, wie sie es schon lange für Basketballer und Footballer tun. Am Middlebury College, dem Geburtsort des Muggel-Quidditch, ist das Spiel längst fester Bestandteil des Sportprogramms. Im Finale von New York triumphierte das Team aus Vermont mit 100:50 gegen die Tufts University aus Massachusetts – es war der vierte WM-Titel beim vierten WM-Turnier für Middlebury. „Es wäre gut, wenn mal eine andere Mannschaft gewinnt“, findet selbst Benepe. Für ihn ist Quidditch zum Beruf geworden, mit dem Verkauf von Merchandise kann die IQA seine Stelle als Verbandschef finanzieren.

Wie in den Büchern, in denen Harry Potter und seine Mitspieler die Spiele oft nicht unverletzt überstehen, ist auch die Muggel-Variante bisweilen ein harter Sport. Wie im Rugby dürfen Gegner mit Tacklings gestoppt werden, die Besen sind immer mittendrin. „Bei der WM mussten einige Spieler mit Prellungen oder Knochenbrüchen ins Krankenhaus, einer hat eine Gehirnerschütterung abbekommen“, sagt Alex Benepe. Das Regelbuch empfiehlt Stollenschuhe, Schienbeinschoner, Handschuhe, einen Mundschutz. Und ein Cape, für die Optik.

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