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Immer voll dabei. Die brasilianischen Fans sind unkonventionell.

© dpa

Olympia 2016 in Rio: Die brasilianischen Fans - lauter Störer

Viele Athleten beschweren sich in Rio über das unfaire Verhalten der brasilianischen Fans. Die Ursache liegt auch in der mangelnden Regelkenntnis.

Von Christian Hönicke

Arthur Mariano kniete auf dem Boden, Diego Hypolito trat mit Tränen in den Augen von einem Bein aufs andere. Die beiden brasilianischen Turner warteten auf die Wertung der Kampfrichter. Gerade hatte der letzte Bodenturner Sam Mikulak aus den USA seine Übung beendet. Das Publikum raste, es pfiff und buhte. Dann wurde aus dem Pfeifen ein hochfrequentes Geschrei. Mikulak bekam eine schwache Wertung, die beiden Brasilianer Hypolito und Mariano hatten Silber und Bronze geholt.

Mikulak hatte schon seine Übung unter lauten „Diego, Diego“- und „Brasil, Brasil“-Sprechchören absolvieren müssen. Und er kam noch vergleichsweise gut davon. Direkt vor ihm hatte das Publikum die Fehler des Japaners Kenzo Shirai mitten im Wettkampf bejohlt und beklatscht. Der Goldfavorit verpasste die Medaillenränge, nachher verbeugte er sich mit säuerlichem Lächeln trotzdem artig.

Nicht jeder steckt die Atmosphäre in Rio äußerlich so unberührt weg wie Shirai. Das Publikum hat bei den ersten Olympischen Spielen in Südamerika eine aktive Rolle eingenommen, eine viel aktivere, als es manchem lieb ist. Zwar sind die Arenen selten voll, dennoch ist die Stimmung häufig hitzig. Regelmäßig müssen die Zuschauer per Durchsage und Videobotschaft dazu aufgefordert werden, sich sportlich zu verhalten.

Neutralität ist den brasilianischen Fans fremd

Doch was heißt schon sportlich? Wer darunter die vornehme britische Zurückhaltung der vergangenen Sommerspiele in London versteht, wird die Stimmung in Rio unsportlich finden. Die Brasilianer leben ihr eigenes Verständnis vom Sport aus, es basiert auf den gelernten Anfeuerungsritualen der Fußballduelle. Neutralität ist ihnen fremd, es gibt nur Gut gegen Böse. Wenn kein einheimischer Athlet anzufeuern ist, suchen sie sich Ersatz und schlagen sich auf eine Seite – meistens auf die des Außenseiters. Häufig überschreiten sie dabei die Grenzen dessen, was man andernorts unter Sportlichkeit versteht.

Renaud Lavillenie hat das zweimal erfahren müssen. Der Franzose, Olympiasieger von 2012, hatte das Stabhochsprungfinale unter irritierenden Begleitumständen gegen den Außenseiter Thiago Braz da Silva verloren. Lavillenie ist in allen Stadien der Welt gefeiert worden, doch seine Verdienste waren dem Publikum von Rio ziemlich egal. Zunächst feuerte die Menge nur den Brasilianer an, doch vor dem letzten Versuch Lavillenies wendete sie sich mit großer Inbrunst gegen den Franzosen.

Lavillenie verlor – die Nerven und das Gold. Er verglich die Stimmung mit jenen bei den Nazispielen in Berlin 1936, für diesen unzutreffenden Vergleich entschuldigte er sich später. Die Kritik am Publikum nahm er nicht zurück. „Das ist ekelhaft, es fehlt jegliches Fairplay“, sagte Lavillenie. „Das ist kein gutes Image für die Olympischen Spiele.“

Auch die Schiedsrichter lassen sich vom Publikum beeinflussen

Die Reaktion auf seine Worte erhielt er am Dienstagabend bei der Medaillenzeremonie im selben Stadion. Bei der Verleihung der Silbermedaille wurde er ein weiteres Mal ausgebuht, so lange, bis ihm die Tränen kamen. Das brachte selbst Thomas Bach auf den Plan, der in anderen Angelegenheiten gern mal ein Auge zudrückt. Der IOC-Präsident nannte das Verhalten des Publikums „schockierend“. Lavillenie während der Medaillenzeremonie auszubuhen, sei „inakzeptabel für die Olympischen Spiele“. Bach hatte den Franzosen noch im Stadion gemeinsam mit den früheren Leichtathletikgrößen Sebastian Coe und Sergej Bubka getröstet.

Nicht nur auf die Sportler, auch auf die Schiedsrichter und Juroren hat das Toben auf den Rängen offensichtlich Einfluss. Etwa beim Judokampf der Deutschen Martyna Trajdos gegen Mariana Silva. Da nahm das Kampfgericht eine Bestrafung für die Brasilianerin zurück, nachdem das Publikum minutenlang gepfiffen und gebuht hatte. Später erhielt die Deutsche zwei umstrittene Strafen wegen Passivität und verlor deswegen. „Es ist absolut unfair, dass Athleten, die sehr hart gearbeitet haben, um es zu Olympia zu schaffen, so behandelt werden“, sagte Judo-Bundestrainer Michael Bazynski.

Diese in olympischen Kreisen ungewohnte Atmosphäre führt Victor Melo auf eine Kombination zweier Dinge zurück. Der Leiter der Abteilung Sportgeschichte an der Bundesuniversität in Rio sagte, die Brasilianer seien erstens immer stürmische Fans, für sie sei Sport eine öffentliche Party. „Und sie kennen sich eben mit vielen Sportarten nicht aus, die sie hier sehen.“ Man müsse also ein Verhalten erwarten, das „nicht konform der Regeln und Traditionen der jeweiligen Sportart“ sei.

Beispiele dafür gibt es in fast jeder Sportart. Selbst beim Tischtennis kam es beim Halbfinalspiel der deutschen Frauen gegen Japan immer wieder zu störenden Zwischenrufen, während der Ballwechsel brach bisweilen ohne erkennbaren Grund rhythmisches Klatschen aus. Während der gesamten Tenniskonkurrenz wüteten die brasilianischen Fans gegen Juan Martin del Potro. Er vertrat den Erzfeind Argentinien, dessen Sportler am beständigsten mit Abneigungsbekundungen bedacht werden. Im Halbfinale gegen Rafael Nadal wurde es selbst dem Schiedsrichter zu viel. „Bitte, das ist ein Tennis-Match, kein Fußballspiel!“, rief er. Es half nichts. Die Ansage ging im lauten Pfeifen unter.

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