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Sport: Olympioniken aus Ost-Timor: Barfuß über Patronenhülsen

Rennschuhe sind Luxus. Sie sind in Ost-Timor sogar ein Vermögen wert.

Rennschuhe sind Luxus. Sie sind in Ost-Timor sogar ein Vermögen wert. Aguida Amarel ist aber nicht reich. Deshalb hat sich die junge Frau auf den olympischen Marathon, in dem sie am Sonntag starten wird, barfuß vorbereitet. Schlecht gepflasterte Straßen hat sie gemieden und ist am liebsten am Strand von Dili entlang gelaufen. Tag für Tag. Hunderte von Stunden. "Gestört hat nur", sagt Amarel, "dass überall die Patronenhülsen herumlagen."

Amarel gehört zu der vierköpfigen Gruppe aus der einstigen indonesischen Unruheprovinz, die in Sydney als "Internationale Olympische Athleten" startet. Kaum jemand freut sich mehr darüber, überhaupt in Sydney angekommen zu sein. "Ich habe in der letzten Woche schon oft weinen müssen vor Glück", sagt Aguida Amarel in der Internationalen Zone des Sportlerdorfes, "ich wünschte nur, wir könnten demnächst mehr Athleten zu den Spielen schicken."

Die Geschichte der vier Athleten aus Ost-Timor ist die Geschichte eines Boxers, der ohne Handschuhe trainierte, eines Gewichthebers, der sich selbst Hanteln zusammenbastelte, und von zwei Marathon-Läufern, die sich barfuß oder mit Straßenschuhen auf die 42,195 Kilometer in der Olympia-Metropole vorbereiteten. "Das Wichtigste ist, dass wir hier sind, dass wir Ost-Timor vertreten", sagt Amarals Marathonkollege Calisto de Costa. Nicht nur in den Arenen und Hallen, sondern auch als Sprachrohr gegenüber der Weltpresse. "Einige Interviews habe ich schon gegeben", sagt Aguida Amarel, "aber Laufen ist mir lieber." Jedes ihrer wohl überlegten Worte wird von einem Indonesisch sprechenden Angestellten des Olympia-Komitees ins Englische übersetzt.

Über Politik wird nur in Zwischentönen gesprochen in diesen Tagen, über den Kampf um Unabhängigkeit von Jakarta, über die metzelnden indonesischen Milizen, die in der Provinz wüteten. Über den UN-Einsatz, über persönliche Dramen der vier Sportler und ihrer Familien. "Das gehört nicht hier her", sagt Calisto de Costa, der am Schlusstag der Spiele auf die Marathon-Distanz gehen wird. Einen einzigen Marathon ist de Costa bisher zu Ende gelaufen, aber international ist der 22-Jährige noch nie gestartet. So wie alle seine Kollegen.

Einige Medaillen hat er in seiner Heimatstadt Leuro gewonnen. "Alle sagen, dass ich viel Talent habe", sagt de Costa, "aber wie kann man es nutzen, wenn man keine Schuhe hat?" Genau wie Aguida Amarel verdankt er seine ersten Paar dem australischen IOC-Funktionär Kevin Gosper, der bei einem Besuch in Ost-Timor Fußabdrücke der Sportler auf ein Papier zeichnete und einige Tage später das passende Schuhwerk zuschickte. "Mister Gosper hat sich rührend um uns gekümmert", sagt de Costa.

Seit zwei Wochen ist der Junge aus Ost-Timor nun in Sydney. Was 99 Prozent der Athletenfamilie mit purer Selbstverständlichkeit erleben, ist für de Costa "eine unglaubliche Erfahrung." Man sieht es auch an den strahlenden Augen, mit denen er von den großen Autos, dem üppigen Essen, den riesigen Kaufhäusern und den schön gekleideten Menschen spricht. Nächste Woche, lange vor seinem Lauf in Sydney, wird sein Vater Oscar aus Leuro in Richtung Dili aufbrechen. Dorthin, wo die einzigen Fernseher in der Provinz stehen. Das wird de Costas Vater ein halbes Jahresgehalt kosten, aber der Rest der Familie - Mutter, fünf Töchter und ein Sohn - wird nach der Rückkehr jedes Detail erfahren wollen. Calisto hofft auch noch, dass ihm Gosper eine Videokassette beschafft. Er hat zwar noch keinen Fernseher und keinen Videorekorder daheim, "aber vielleicht", sagt er, "kommen ja auch bei uns einmal bessere Zeiten".

In der olympischen Familie sind die Vier aus Ost-Timor schon mit großer Herzlichkeit aufgenommen worden. Bei der Eröffnungsfeier erhielt die kleine Abordnung neben dem vereinigten Team aus Korea den größten Applaus aller Gastländer. Auch IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch besuchte das Quartett für zwei Stunden im Olympischen Dorf. Einen noch schöneren Termin arrangierte Gosper für den Marathonläufer de Costa: eine Begegnung mit Carl Lewis, dem amerikanischen Leichtathletik-Supermann. "Er hat mir gesagt, dass er sich mein Rennen ansehen will", sagt de Costa, "und dass er mir beide Daumen drückt." Ganz nebenbei versprach Lewis, sich bei Ausrüsterfirmen für eine Lieferung von Schuhen, Trikots, Trainingsanzügen und Gerät einzusetzen.

Darüber werden sich auch der Gewichtheber Martinho de Araujo und der Boxer Victor Ramos freuen. Die beiden Sportler haben ihre Wettkämpfe schon hinter sich, Ramos wurde in seinem ersten Kampf nach 97 Sekunden in der zweiten Runde ausgeknockt, de Araujo kam auf den vorletzten Platz in der 56-Kilogramm-Klasse im Gewichtheben. Der Stemmer hat die härteste Zeit aller vier Olympioniken hinter sich. Er floh 1999 aus der umkämpften Hauptstadt Dili, geriet in einen Hinterhalt von Milizen und hatte, so sagt er, "plötzlich ein Gewehr im Rücken". Es ging um Leben oder Tod.

De Araujo will sich eigentlich "nicht mehr daran erinnern". Lieber spricht er über seine einsame Olympia-Vorbereitung in einem kleinen Provinzdorf, wo er große Steine, selbst gegossene Betonblöcke und auch sonst alles Mögliche in die Höhe hob, nur keine echten Hanteln. Die bekam er erst in seinem provisorischen Trainingslager in Darwin in die Hände, ab Mitte Juli, natürlich vermittelt von IOC-Mann Gosper. Betrachtet der Marathon-Läufer de Costa die abenteuerlichen Wege seines Teamkollegen de Araujo nach Sydney, dann sagt selbst er: "Er ist dem Tod entkommen. Und jetzt ist er hier bei den Olympischen Spielen. Das ist unglaublich."

Jörg Allmeroth

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