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Wer braucht das und wie lange? Der Skisprungturm in Pyeongchang.

© AFP/Kirill Kudryavtsev

Olympische Winterspiele in Pyeongchang: Geht das olympische Zeitalter zu Ende?

Eigene Fehler und äußere Veränderungen zwingen Olympia zur Erneuerung. Vielleicht hilft ein Gedankenspiel: Was würde Coubertin heute tun? Ein Essay.

Ein Essay von Friedhard Teuffel

Was hier passiert, kann ganz groß werden. Es hat das Zeug zur Legende und vielleicht wird man Jahre, ja Jahrzehnte später noch davon erzählen. Olympische Spiele können Momente in Ikonen verwandeln, auch deshalb wollen so viele Sportler Olympioniken werden und so viele Städte Ausrichter. Olympia zieht sie alle an, das heißt – halt! Es zog sie an, denn es ist einiges vorgefallen.

Am Freitag wird in Pyeongchang wieder das Feuer entzündet, in Südkorea beginnen die Winterspiele. Nachrichten zum schleppenden Ticketverkauf, zu Lücken im Dopingkontrollsystem und zu Korruptionsfällen bei der Organisation gehören schon länger zum Aufwärmprogramm für die Spiele. Nur ist diesmal etwas hinzugekommen: der Eindruck, dass Olympia nicht mehr so groß und wichtig ist. Schon vor der Eröffnung ging eine Kraftprobe verloren. Dopingverdächtige Russen sollten zu Hause bleiben, dazu hatte sich das Internationale Olympische Komitee diesmal durchgerungen. Die Indizien für Staatsdoping waren erdrückend. Nun dürfen sie doch starten, mit Erlaubnis des Internationalen Sportgerichtshofs. So viele ungebetene Gäste können eine Party schon mal sprengen.

Olympisch war früher die Steigerung von sportlich

Die Olympischen Spiele stehen gerade nicht mehr kraftstrotzend vor der Welt wie eine griechische Athletenstatue. Sie sind geschrumpft, wirken angeschlagen. So sieht jemand aus, der in eine Identitätskrise gerutscht ist, mindestens. Die Symptome sind jedenfalls offensichtlich. Olympia leidet: unter der Niederlage im Aufmerksamkeitswettbewerb gegen den Fußball. Unter der ständigen Kritik, dass sich vieles nicht zum Besseren wendet im Kampf gegen Doping, Korruption, Kommerz. Unter nachlassender Begeisterung für einzelne Sportarten und das Ereignis an sich. Eine Absage nach der nächsten haben die Spiele in Bürgerbefragungen mehrerer potenzieller Bewerberstädte kassiert. Und alle Symptome dieser Krise zusammengezählt laufen in eine Frage:

Geht das olympische Zeitalter zu Ende?

Olympisch. Das war einmal eine Steigerung von sportlich. Sportliche Leistung kann jeder zeigen, aber nur alle vier Jahre geht es um den Olympiasieg. Es gibt Ex-Weltmeister, aber keine Ex-Olympiasieger. Olympiasieger bleibt man ein Leben lang – und darüber hinaus. Olympisch klingt fast nach ewig. Im Hochhaus des Sports hatten sich manche Wissenschaftler, Funktionäre und Journalisten in einen Denkerflügel zurückgezogen, in dem sie die Olympischen Spiele in ihren Köpfen kreisen ließen, ihre Geschichte erforschten, ihre Ästhetik beschrieben und ihnen ganz eigene Werte herbeiphilosophierten.

In ihrer Wachstumsphase schien fast nichts Olympia etwas anhaben zu können, allenfalls ein Weltkrieg. Dass Regime wie das der Nazis die Spiele missbrauchten, schüttelte Olympia zunächst noch von sich ab. Die Idee blieb nahezu unbeschädigt, ein Weltereignis der Bewegung für junge Menschen zu feiern. Die moderne Blütezeit folgte erst noch. 1960 in Rom vermählten sich die Spiele mit dem Fernsehen, mit dem erstmaligen Verkauf von Senderechten. Auch die Gesellschaft spielte in vielen Ländern mit beim olympischen Boom, denn Sportlichkeit wurde vor allem in den 70er Jahren zu einem geschätzten Attribut. In Deutschland florierte der Breitensport mit Trimm-dich-Pfaden, der Laufbewegung, Aerobic. Mit „Jugend trainiert für Olympia“ erreichten die Spiele auch die Schulen.

Die olympische Hochzeit in den 70ern und 80ern

Die Politik lieferte eine knisternde Rahmenhandlung dazu. Der Kalte Krieg konnte wunderbar als Duell auf der sportlichen Bühne ausgetragen werden, Ost gegen West, Russland gegen USA, DDR gegen Bundesrepublik. So wichtig war Olympia, dass Austragung und Boykott als weltpolitische Instrumente benutzt wurden, in Moskau 1980 und vier Jahre später in Los Angeles.

Derart aufgeladen wurden die 70er und 80er Jahre zur Hochzeit der modernen Olympischen Spiele. In den Deckeln von Colaflaschen klebten Bilder von bundesdeutschen Medaillengewinnern, Fotos von Favoriten der Spiele 1984 steckten in Hanutas und Duplos, Ritter Sport nannte 1980 eine Schokoladensorte Olympia.

Wie ein Reservat für bedrohte Sportarten

Es war aber nicht nur die Menge an Zucker, die Olympia allmählich aus der Form geraten ließ. Immer mehr Gigantismus und immer mehr künstliche Zusatzstoffe trugen ihren Teil dazu bei. Von was Olympia befallen war, ließ sich an Ereignissen festmachen. Doping mit dem Fall Ben Johnson 1988, Kommerz bei den Coca-Cola-Spielen von Atlanta 1996, Gier beim Bestechungsskandal um die Winterspiele 2002 in Salt Lake City. All das schien das verantwortliche Internationale Olympische Komitee nicht groß zu beunruhigen. Für jedes Problem präsentierte es eine Gegenmaßnahme, das sollte doch reichen. Mochte das eigene Spiegelbild noch so aufgedunsen aussehen, das große Fressen ging weiter. Es nannte sich „neue Märkte erschließen“ und findet nun eben in Pyeongchang statt.

Aus der Form geraten – das ist das eine große Problem der Olympische Spiele. Das andere: Mit einem Bein hängt Olympia in der Vergangenheit fest, mit dem anderen versucht es, sich nach der Zukunft zu strecken. Ein Spagat? Eher eine Verrenkung. In welcher Klemme Olympia steckt, zeigte sich etwa bei der Frage: Soll Ringen aus dem Programm fliegen? Um Gottes Willen! Das wäre doch Verrat an der eigenen Geschichte, wurde dem IOC entgegengeschrien. Dass Ringen in der Antike eine andere Bedeutung hatte als heute, spielte in der Diskussion kaum eine Rolle. Es ging schließlich ums Bewahren. Ringen blieb also erst mal drin, und mit all ihren Disziplinen, allein 47 in der Leichtathletik, wirken die Spiele inzwischen wie ein Reservat für bedrohte Sportarten.

Der Zeitgeist ist gerade stärker als der olympische Geist

Als hätte sie nicht schon genug eigene Probleme, muss sich die olympische Bewegung auch noch gegen Entwicklungen von außen stemmen. Sich auf eine Sache zu konzentrieren, sich ihr jahrelang zu verschreiben, davon leben viele olympische Sportarten. Aber der Zeitgeist weht in eine andere Richtung, hin zu den Projekten, zeitlich begrenzt, dann soll bitte etwas Neues kommen.

Auch das olympische Motto „schneller, höher, weiter“ ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was in dieser Gesellschaft gerade gewünscht wird. Was soll denn nach dem olympischen Komparativ gesteigert werden? Noch mehr Leistung? Noch mehr Arbeit in noch weniger Zeit? Soll sich das Hamsterrad noch schneller drehen? Es geht in der Gesellschaft mittlerweile im Beruf wie im Privaten um Zeitgewinne, nicht als Wettkampf gegen die Uhr, sondern als Entschleunigung, Muße und Mäßigung, zu beobachten etwa bei den Tarifauseinandersetzungen, in der die IG Metall forderte, 28 Stunden mit Lohnausgleich arbeiten zu können.

Wenn das Lagerfeuer nicht mehr so hell lodert

Das olympische Medium war bisher das Fernsehen. Je unwichtiger das Fernsehen im Vergleich mit dem Internet wird, desto mehr könnten die Spiele leiden. Olympia lebte schließlich vom Austausch über das Gesehene. Wenn jetzt über unzählige digitale Einzelkanäle jeder die Disziplin schaut, die ihn interessiert, lodert das olympische Lagerfeuer nicht mehr so hell. Dann streamt sich das Publikum auseinander. Gerade zum Fußball haben die Spiele einen entscheidenden Nachteil. Der Fußball bietet übers ganze Jahr Anlässe zur Dauerdiskussion, sei es über Taktik und Transfers oder über Aufreger wie Schwalben, Fehltritte, kuriose Äußerungen nach dem Spiel. Die Präsenz der olympischen Stars ist dagegen begrenzt. Sie bereiten sich lange und intensiv auf einzelne Saisonhöhepunkte vor. Olympia ist dadurch eher sportlicher Sport als unterhaltender Sport.

Die emotionale Beteiligung funktionierte bei Olympia stark über das Nationale. Wenn aber das Nationale in seiner Bedeutung allmählich von Communities abgelöst wird, verliert etwa der Medaillenspiegel als Folkloreschmuck an Wert. Über das visionäre Element der Spiele, mit dem olympischen Dorf das global village schon verwirklicht und mit der Mensa dort einen Ort zu haben, an dem sich die ganze Welt zum Essen trifft, wird heute auch nicht mehr groß gestaunt. In sozialen Netzwerken ist schließlich eine permanente Kommunikation über Erdteile hinweg möglich.

Das alles setzt den Olympischen Spielen zu, ihre Strahlkraft hat sichtbar nachgelassen. Werden sie sich davon noch einmal erholen?

Warum nicht Spiele mehr aus dem alltäglichen Leben?

Sie haben noch die Kraft, überraschende, symbolhaltige Geschichten zu erzählen. Im besten Fall können sie inspirieren, über Vorbilder motivieren. Das ist ihre zeitlose Stärke. Bei den Spielen findet jeder, der sich auf sie einlässt, seinen olympischen Moment. Und es existiert ein ganzes Album von bewegenden Bildern als kollektiver Erinnerungsschatz. Unter anderem: Jesse Owens beim Sprint 1936 in Berlin. Die in den Himmel gereckten Fäuste in schwarzen Handschuhen der farbigen US-Leichtathleten Tommie Smith und John Carlos 1968 in Mexiko. Der parkinsonkranke Muhammad Ali beim Entzünden des Feuers 1996 in Atlanta. Cathy Freeman, Angehörige der Aborigines, beim 400-Meter-Lauf zu Gold 2000 in Sydney. Diesmal könnte das IOC Glück haben, dass es fröhliche Bilder mit Athletinnen und Athleten aus Nordkorea und Südkorea gibt, die zusammen bei der Eröffnungsfeier einlaufen und bei den Frauen ein gemeinsames Eishockeyteam bilden.

Die andere Stärke Olympias ist die unglaubliche Vielfalt an körperlichen Ausdrucks- und Bewegungsformen. Das ist ein kultureller Schatz.

Aber reicht das aus für ein vitales Weiterleben?

Die Olympischen Spiele haben sich einfach selbst nicht im Griff, das wird nirgends so deutlich wie bei Winterspielen. Nachhaltige Olympische Winterspiele sind so häufig wie Haie als Veganer. Der Naturverbrauch der Spiele ist ein Irrsinn. Die omnipräsenten Schneekanonen, die Wintersport oft erst möglich machen, wirken genauso künstlich wie die Spritzen von dopenden Athleten. Menschen werden für den Bau von Sportstätten umgesiedelt. Sie verlieren ihren Lebensmittelpunkt für Anlagen, die ihren Zweck nach ein paar Tagen erfüllt haben. Für die steile Piste des alpinen Abfahrts- und Super-G-Rennens mussten in Pyeongchang wieder Menschen weichen und zehntausende Bäume gefällt werden. Diese Disziplinen haben in Südkorea weder Basis noch Tradition.

Die Suche nach dem Vermächtnis

Wo die Spiele, gerade die Winterspiele, herkommen, wo sie prägend und identitätsstiftend waren, da wollten sie zuletzt immer weniger haben. Es gibt keine Sehnsucht mehr nach ihnen in der Schweiz, in Deutschland, in Österreich, in Skandinavien. Dafür geht es noch absurder als Pyeongchang. Denn vier Jahre später finden die Winterspiele statt vor dem, Achtung Ironie, weltberühmten alpinen Pekinger Postkartenpanorama.

Was also kann das Internationale Olympische Komitee tun? Warum nicht zum Beispiel die Winterspiele rotierend an vier, fünf feststehenden Orten abhalten, statt mit gewaltigem Aufwand neue Skisprungschanzen und Bobbahnen in die Landschaft zu rammen. Es gibt genügend Wintersportorte mit kompletter Ausstattung. Hinter dieser Argumentation wird oft westliche Arroganz vermutet, der Westen wolle die Hoheit über Olympia behalten und sei nicht bereit zu teilen. Aber es ist schwer für ein Land, Olympia mit neuem Leben zu füllen, wenn es gar nicht genau weiß, welches Vermächtnis bleiben soll, abgesehen von neuen Hotels, Straßen und Eisenbahnstrecken.

Das IOC seinerseits müsste seinen eigenen Mehrkampf zur Veränderung aufnehmen. Sich ehrlich machen, Doping energischer bekämpfen, um neue Sympathien für seine Ideen werben, seine hehren Ideale auf Umsetzbarkeit abklopfen. Vielleicht fängt es auch mit einem Gedankenspiel an: Wie würde Pierre de Coubertin, der Gründer der neuzeitlichen Spiele, Olympia heute erfinden?

Der Sport kann viel mehr als er bei Olympia zeigt

Das Programm sähe auf jeden Fall anders aus. Viele Sportarten wären nicht mehr dabei, andere wie E-Sports kämen dazu. Wer weiß, ob Olympische und Paralympische Spiele noch getrennt wären. Vielleicht würden Elemente eingebaut, die an Spiele ohne Grenzen erinnern, als gemischte Mannschaften aus Städten gegeneinander antraten. Dann eben mit länderübergreifenden, zusammengelosten Teams. Es könnte mehr und andere Staffeln geben und herausfordernde Parcours. Die Trennung könnte aufgehoben werden, nach der Zuschauer zuschauen und Sportler sporteln. Also Spiele mehr aus dem alltäglichen Leben.

Um den Sport an sich muss man sich ohnehin keine Sorgen machen. Er kann so viel mehr als er bei Olympia darstellt. Weil er in der Breite meist unabhängig von einzelnen Helden funktioniert, ist er weniger anfällig für Doping und Korruption, und kann dafür mehr seine verbindende, belebende Wirkung entfalten. Für einzelne Menschen wie für eine Gesellschaft. Als Platz, um Freude an der Bewegung und Fairplay auszuleben, um sich selbst und andere besser kennenzulernen, um Siege gegen den inneren Schweinehund zu feiern.

Die Olympischen Spiele müssen erst wieder neu zeigen, wozu der Sport sie eigentlich braucht.

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