Sport: Olympisches Lernen
Die Winterspiele 2010 in Vancouver werden akribisch geplant – auch weil Montreal 1976 ein Fiasko war
Vor dem Olympiastadion von Montreal wehen zwei Fahnen im eisigen Wind: die der Bundesrepublik und die der DDR. Überbleibsel. Im Sommer 1976 holten die Athleten der beiden Deutschlands in diesem Stadion Goldmedaillen – 40 für die DDR, zehn für die Bundesrepublik. Aus der Zeit gefallen wirkt das ganze Areal am Rande der Innenstadt der ostkanadischen Metropole. Organisch gewölbte 70er-Jahre-Architektur mit runden Formen und dramatischen Kurven aus grauem Stahlbeton, gekrönt von einem schrägen Turm, der 175 Meter hoch in den Winterhimmel ragt. 31 Jahre ist es her, dass hier die Olympischen Sommerspiele stattfanden. Den Preis dafür haben die Kanadier jedoch bis vor Kurzem bezahlen müssen. „Die Schulden für das Stadion und den Olympiapark wurden erst im vergangenen Jahr vollständig abbezahlt“, erzählt André, ein junger Mann, der Touristen durch das verschneite Areal führt. „30 Jahre Schulden für zwei Wochen Spaß – eine riesige Fehlkalkulation.“ Statt der einst veranschlagten Kosten von etwa 100 Millionen Euro summierten sich die Gesamtkosten der Sportanlagen im Laufe der Jahre auf das Zehnfache: mehr als eine Milliarde Euro. Viele Kanadier denken deswegen bis heute beim Stichwort Olympia zuerst an die Folgekosten. Die Spielstätte in Montreal, die einst wegen ihrer ovalen Form den Spitznamen „The Big O“ trug, wird heute von vielen Kanadiern als „The Big Owe“ verspottet: die große Verschuldung.
5000 Kilometer westlich sitzt Mary Fraser in einem schlichten Konferenzraum und strahlt Optimismus aus. „Wir liegen im Zeitplan, wir liegen im Budget, wir haben eine aufregende Zeit vor uns“, sagt die Sprecherin des Vorbereitungskomitees der Winterspiele 2010 in Vancouver, kurz „Vanoc“. Bei den Planungen sei höchstens ein wenig „furchterregend, dass wir schon halb durch sind“, kokettiert Fraser. Die Skepsis, die der Montrealer Stadionführer und andere Kanadier mit Olympia verbinden, kann sie nicht nachvollziehen. Ihre Zuversicht zieht die Managerin aus dem Interesse vieler Unternehmen: „Wir liegen bei den Einnahmen durch Sponsoren für 2007 über unserem Ziel.“ Insgesamt seien bereits drei Viertel der geplanten Kosten gegenfinanziert. Für alle Hallen gebe es ausgereifte Nachnutzungskonzepte. Und man liege im Zeitplan, im kommenden Jahr sollen die wichtigsten neuen Sportstätten eröffnet werden – auch dies wäre ein Unterschied zu Montreal, wo manche Bauarbeiten wie die für den spektakulären schrägen Turm durch Streiks und andere Verzögerungen erst Jahre nach dem Ende der Spiele 1976 abgeschlossen wurden.
Umgerechnet 400 Millionen Euro umfasst das Baubudget, abgesichert durch die kanadische Regierung. Für die eigentliche Durchführung der Winterspiele im Februar 2010 und der Paralympics im März 2010 rechnen die Manager mit Kosten von etwa 1,1 Milliarden Euro. Dieses Geld soll größtenteils durch Übertragungsrechte, Sponsoring, und Eintrittskarten eingespielt werden. Tickets sollen ab Oktober 2008 erhältlich sein.
Allerdings waren die Kanadier vor den Spielen in Montreal ähnlich optimistisch. Damals verlangte der Aufbruchsgeist der 70er Jahre offenbar nach großen Gesten und architektonischen Monumenten. So war das von dem französischen Architekten Roger Taillibert entworfene Olympiastadion von Montreal eine technische Pionierleistung. Es hatte eines der größten komplett zu öffnende Dächer der Welt, zumindest vorübergehend. Diese bewegliche Konstruktion wurde allerdings kurze Zeit später durch fest installiertes Fiberglas ersetzt, weil das ursprüngliche Dach den starken kanadischen Winden nicht standhielt, wie Stadionführer André beim Rundgang erzählt. Die Tour führt durch gigantische Schwimmhallen, in denen ein paar Freizeitsportler ihre Bahnen ziehen, vorbei an etwas besser besuchten Badmintonplätzen, bis in die zentrale Halle. Ein gigantischer Raum mit 65 000 Plastiksitzen, der oft leer steht. Das gewölbte Hallendach schützt schon lange keine Athleten mehr, sondern Hausbau- und Heimwerkermessen, Monstertruck-Shows oder mal eine Technonacht. Jahrelang war das Stadion auch als Konzerthalle für Bands wie Genesis oder die Rolling Stones benutzt worden. Als vor einigen Jahren im Zentrum Montreals aber eine neue Halle eröffnet wurde, zogen die großen Namen weiter, ebenso die Football- und Baseballteams. Der einst so stolzen Olympiahalle blieben nur die zweitrangigen Veranstaltungen. 20 Millionen Dollar kostet es im Jahr, die Halle zu betreiben.
Nebenan, im Velodrom, in dem 1976 die Radrennfahrer um Medaillen kämpften, sind heute Fledermäuse und Krokodile zu Hause: Die wie ein großes Gürteltier aussehende Halle, die fast nur aus einem gewölbten Dach besteht, wurde in einen Naturerlebnispark umgewandelt. Auf den Gängen des Stadions zeigen Schautafeln die aufwendigen Bauarbeiten Anfang der 70er Jahre. „Da wollte unsere Stadt so richtig international glänzen“, erklärt der Stadionführer, „aber das ging leider schief.“
In Vancouver hingegen, das in der Innenstadt und in manchen neu zu gestaltenden Außenbezirken mit Baustellen übersät ist, regieren offenbar die Rechnungsprüfer. Stolz nennen Vanoc-Planer Beispiele für Sportanlagen, die früher und billiger als erwartet fertiggestellt wurden. Allerdings gab es auch Beispiele, die den Rahmen sprengten – die würden aber laut Vanoc-Sprecherin Mary Fraser im Gesamtbudget ausgeglichen. So sei eine Kostensteigerung von 1,6 Millionen Euro bei den Anlagen für Eisstockschießen zu verkraften gewesen, weil das Pacific Coliseum, in dem 2010 die Eisläufer um Medaillen kämpfen sollen, weniger renovierungsbedürftig gewesen sei, als erwartet worden war.
Fehler der Vergangenheit sollen mit aller Macht verhindert werden. Zwei Jahre vergehen noch bis zur Eröffnungsfeier, aber erste Marksteine werden schon gesetzt. So stellten die Olympia-Manager bereits die Maskottchen der Spiele vor: drei Fabelwesen mit Anleihen aus der Mythologie der kanadischen Ureinwohner. Zudem eröffneten sie die Wettkampfanlagen mit angeschlossenem Skiresort in der Bergregion um Whistler, eine Stunde nördlich von Vancouver in den Rocky Mountains. Die komplizierteste Anlage ist das 1,6 Kilometer lange Whistler-Sliding-Centre für die Rennrodler. Sie kostete mit umgerechnet 74 Millionen Euro zwar fast doppelt so viel wie geplant, aber auch diese Kosten sprengen – nach Angaben der Olympiaplaner – das Budget nicht. Allerdings sind nicht alle Großprojekte, die für 2010 vorgesehen sind, auch Teil des Olympiabudgets. So wird derzeit das Verkehrsnetz Vancouvers auf den neuesten Stand gebracht, rund 700 Millionen Euro will die Stadt in ein neues Veranstaltungszentrum stecken, das als olympisches Medienzentrum fungieren soll.
In ihrem Optimismus meiden die Planer von Vancouver 2010 den Vergleich mit Montreal 1976. Sie erinnern lieber an einen anderen olympischen Vorgänger auf kanadischem Boden: Calgary. Hier, inmitten der westkanadischen Prärie und etwa 1000 Kilometer östlich von Vancouver, fanden 1988 schon einmal Olympische Winterspiele statt. Die waren im Gegensatz zu den Spielen in Montreal wirtschaftlich sehr erfolgreich. Eine gemeinsame, für die Kanadier schmerzhafte Tradition gibt es allerdings, die die Spiele von Calgary und die von Montreal verbindet: Gastgeber Kanada errang weder 1976 noch 1988 eine Goldmedaille.