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Sport: Ottepelö

Tauwetter

Wenn in Russland im April langsam der Frühling beginnt, tauen meterhohe Schneeschichten, die sich seit November aufgehäuft haben. Nicht geteerte Wege verwandeln sich in schlammige Bäche; solange der Boden die Wassermassen nicht aufgesogen hat, balancieren die Menschen auf glitschigen Holzplanken. In den Großstädten sieht es nur unwesentlich besser aus: Wenn der Schneematsch auf asphaltierten Straßen nur knöchelhoch steht, hat man es noch gut erwischt. Tauwetter ist keine angenehme Sache. Als politische Metapher hat es dennoch Karriere gemacht. Nach Stalins Tod und Chruschtschows Geheimrede von 1956 entspannte sich die schlimmste Repression; Ilja Ehrenburg schrieb den Roman „Tauwetter“, der der Epoche den Namen gab. Ein fades, im Vergleich zu Ehrenburgs furiosem Frühwerk „Julio Jurenito“ zähes Buch. Auch literarisch ist das Tauwetter wenig reizvoll. Und auf die politische Lockerung folgte die nächste Repression.

Das Ende der Sowjetunion brachte ein noch abrupteres Tauwetter; der Repressionsapparat versank für einige Jahre in Agonie. Doch wirtschaftlich bedeutete die Wende für die große Mehrheit der Bevölkerung den Absturz. Es war vor allem das Ausland, das sich für dieses Tauwetter begeisterte. Doch auch Ausländer ereilt das russische Tauwetter: Wenn heutzutage in Moskau jemand bei Tauwetter direkt an einer Fußgängerampel auf Grün wartet, dann ist es ein Tourist. Er wird den Fehler nur einmal begehen.

Dirk Uffelmann

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