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In ganz neuen Sphären - und zwar nicht nur sportlich. Die Paralympics in Sotschi bringen das Thema Inklusion in Russland auf die Agenda.

© dpa

Paralympics in Sotschi: Einmal barrierefrei, bitte!

Früher, zu Zeiten der Sowjetunion, gab es laut kommunistischem Parteicredo gar keine Behinderten in Russland. Insofern hat sich bei den Paralympics in Sotschi schon einiges getan, wenngleich es noch Verbesserungsmöglichkeiten in einigen Bereichen gibt.

Am Eröffnungstag der Paralympics in Sotschi: Eine rundliche Frau steht umhüllt von einer Signalweste an einem menschenleeren Fußgängertunnel – in ihren Händen ruht ein Bedienpult. Neben ihr glänzt ein neuer Treppenschrägaufzug. Die breite Hauptstraße zum olympischen Dorf ist für Rollstuhlfahrer hier kein unüberwindbares Hindernis mehr. Doch nutzen sie die Anlage auch? „Bislang selten“, sagt die Frau, „es ist alles neu bei uns, viele kennen das noch nicht.“

Es ist ein im postsowjetischen Raum einmaliges Vorhaben: Sotschi sollte im Vorfeld der Spiele zur vollständig barrierefreien Mustermetropole ausgebaut werden. Wobei vollständig heißt, dass alle Neubauten barrierefrei errichtet und bereits vorhandene Gebäude und Transportmittel nach und nach umgerüstet werden. Bei mehr als 1000 Objekten hat dies bereits geklappt. Die ebenfalls neue „Karte der Barrierefreiheit“ kennt mehr als 15 000 Orte in Sotschi und ganz Russland, die auch für Menschen auf zwei Rädern zugänglich sind – damit die Helfer in Signalwesten nicht vergeblich an den Unterführungen warten.

Der seit seiner Kindheit auf den Rollstuhl angewiesene Dimitrij aus Krasnodar zeigt sich nach seinem Zustieg in einen Shuttlebus am Olympiastadion begeistert: „Dies ist der erste Ort in unserem Land, wo ich wirklich mobil bin.“ Der 40-Jährige glaubt daran, dass die Spiele einen nachhaltigen Effekt haben: „Wir sind endlich einmal im Fokus. Das wird bleiben.“

Ganz fertig geworden sind die Olympiaplaner nicht. Doch auch wenn einige Rampen steil sind wie Sprungschanzen und an Bahnhöfen während der Spiele noch Markierungen für Rollstühle an die Bahnsteige gesprüht werden, loben die meisten Einheimischen und Gäste die Anstrengungen. Vor allem im Vergleich zu dem, wo Russland bei der Barrierefreiheit herkommt, bedeutet Olympia einen Quantensprung.

Zu Sowjetzeiten vernachlässigten die Funktionäre Menschen mit eingeschränkter Mobilität, die seither Invaliden genannt werden. „Bei uns gibt es keine Behinderten“, lautete das offizielle Parteicredo der Kommunisten. Ein umfassender Bericht von „Human Rights Watch“ aus dem Jahr 2013 attestiert auch Russland große Versäumnisse bei der Eingliederung seiner 13 Millionen Behinderten in die Gesellschaft – spricht aber auch von „wichtigen Schritten“ in den vergangenen Jahren, gerade im Zusammenhang mit dem Paralympics. 1980 weigerte sich Moskau noch, neben den Olympischen Spielen auch Wettkämpfe der Behindertensportler auszutragen. Daran erinnerte bei seiner Eröffnungsrede Philip Craven, Chef des Internationalen Paralympischen Komitees. Der Brite sagte auch: „Genauso wie Sotschi eine barrierefreie Umgebung für Athleten und Offizielle geschaffen hat, rufe ich alle dazu auf, Barrieren in ihren Köpfen abzubauen.“

Nun sind landesweite Einstellungen wesentlich schwerer zu ändern und zu messen als die Anzahl von Treppenschrägaufzügen in einer Stadt. Wohl auch deshalb hat Präsident Wladimir Putin zuletzt immer wieder zur besten Sendezeit im russischen Staatsfernsehen erklärt, dass alle Russen „die unendlichen Möglichkeiten unserer Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten“ zur Kenntnis nehmen sollen. Das Fernsehen könnte bei der Volkserziehung ohnehin eine große Rolle spielen: 180 Stunden Paralympics werden in russische Wohnzimmer übertragen. In einem Land, dessen Fernsehanstalten traditionell die Regierungsmeinung transportieren, kommt die Botschaft der Inklusion damit deutlich zum Tragen.

Die mit großem Schaffensdrang errichtete Paralympics-Bühne ist bereitet für neue Helden. Nach der dramatischen Niederlage der Russen im Penaltyschießen gegen Südkorea im ersten Sledgehockey-Spiel rollte Wadim Seljukin traurig zu Fans und Journalisten. Der russische Spieler, der im Tschetschenienkrieg beide Beine verloren hat, war untröstlich, weil ihm nach toller Leistung sein Penalty missraten war, was die Niederlage mitverschuldete. „Es tut uns leid für die Fans, so eine riesige Kulisse kannten wir noch nicht, vielleicht kamen wir damit nicht zurecht“, sagte der tragische Held, während aus der ausverkauften Halle noch frenetische „Rossija, Rossija“-Rufe hallten. Wenn die Russen trotz einer Niederlage auf dem Eis ihre Spieler feiern, dann scheint alles möglich, sogar Barrierefreiheit im Kopf. Nik Afanasjew

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