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Paralympics: Millimeter-Beziehung

Wie aus dem Guide des Paralympics-Siegers Schröder ein guter Freund wurde.

Berlin - Matthias Schröder wischt mit dem Zeigefinger über das Display des iPads, die Buchstaben sind nun rund fünf Zentimeter groß. Jetzt kann er sie lesen, seine Nase ist 30 Zentimeter von der Mattscheibe entfernt. „17 Uhr 40“, sagt Schröder, „am Samstag laufe ich um 17 Uhr 40 die 400 Meter.“ Noch ein Wischer. „Und am Sonntag um 11 Uhr 20 die 200 Meter.“ Seine Einsätze bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften der Behinderten in Berlin, im Jahn-Sportpark, meint Schröder damit.

30 Zentimeter Abstand zum Display, eine gute Nachricht. Seine Sehkraft hat sich nicht verschlechtert, nicht noch mehr zumindest. Ein Prozent auf dem rechten Auge, 0,8 auf dem linken; solche Werte hatte er schon 2008. Die Konstanz suggeriert das angenehme Gefühl, dass er seinen Alltag routinemäßig leben kann. Schröder genießt diese Suggestion, aber sie hat natürlich Grenzen. Matthias Schröder vom Paralympischen Sportclub Berlin, 29 Jahre alt, lebt auch mit dem Satz: „Bete an jedem Tag, an dem du aufwachst und noch sehen kannst.“

Sein Körper produziert ein bestimmtes Eiweißprodukt nicht, das die Netzhaut braucht. „Wenn die letzten Eiweißprodukte auch noch absterben, ist Schluss“, sagt er. Dann ist er blind.

Es gab eine Zeit, da wäre dann auch mit der sportlichen Karriere des Paralympics-Siegers von 2008 über 400 Meter Schluss gewesen. Mit seiner minimalen Restsehkraft kann er die Begrenzungslinien der Bahn verschwommen sehen. An ihnen orientierte er sich. Er hatte keinen Begleitläufer, das war der Kern der sportlichen Tragik, auf die Schröder zusteuerte. Er war einfach zu schnell, seine 400-Meter-Bestzeit liegt bei 49,29 Sekunden. Ein Begleitläufer musste noch ein wenig schneller sein. Aber diejenigen, die in Frage kamen, gehörten zur deutschen Spitze. Die liefen nicht mit einem Behinderten. Also lief er allein. Doch als Blinder kann er nicht allein laufen.

Schröder kann immer noch jeden Tag aufwachen und entsetzt feststellen, dass er blind ist. Aber nun würde dann wenigstens nicht mehr seine Karriere beendet sein. Er hat Tobias Schneider gefunden. Schneider hat eine 400-Meter-Bestzeit von 47,24 Sekunden, zu wenig, um national in die Spitze zu kommen. Also wollte er frustriert aufhören. Schröder erfuhr es und fragte Ende 2010 einfach: „Willst Du mit mir laufen?“. Ja, sagte der andere.

Schneider ist ganz auf Schröder fixiert, das unterscheidet ihn von Eric Franke. Den Sprinter Franke hatte Schröder 2009 doch noch als Guide gefunden, aber Ende 2010 trennten sie sich wieder. Franke konzentrierte sich auf seine Wettkämpfe.

Schneider dagegen ist von Potsdam nach Berlin gezogen, damit er ständig mit Schröder trainieren kann. Inzwischen sind die beiden sogar Freunde. Laufen mit Guide, das ist motorische Feinarbeit, deshalb ist intensives Training extrem wichtig. Die Beiden berühren sich zwar nicht auf den Geraden, aber dafür in den Kurven, wenn Schröder zu weit nach außen getragen wird. Schneider läuft immer außen, er drückt Schröder mit der Schulter wieder auf Kurs. Aber der Guide darf nicht einen Millimeter vor Schröder laufen, so ist die Regel, ihre Einhaltung wird mit Videokameras überwacht.

2011 wurde Schröder mit Schneider Vize-Weltmeister über 400 Meter, in London, bei den Paralympics, will er Gold. Offiziell muss er noch nominiert werden, aber Schröder geht einfach davon aus, dass er in London starten wird. Allerdings ist dort die Konkurrenz größer als noch 2008. Außerdem hat Schröder gelernt, dass ihn noch etwas ganz anderes aus der Bahn werfen kann. Bei der WM 2010 blieb sein Guide Franke nach 300 Metern verletzt auf der Bahn liegen, Schröder rannte allein ins Ziel, mit einer sehr guten Zeit. Die nützte ihm bloß nichts: Der Paralympics-Sieger wurde disqualifiziert. Es gibt nämlich noch eine Regel: Ein Guide muss ebenfalls über die Ziellinie sprinten.

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