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David Behre 2012 im Vollsprint bei den Paralympics in London.

© picture alliance / dpa

Paralympischer Sport: David Behre: Deutschlands bester Prothesensprinter

Seit einem schweren Unfall hat David Behre keine Unterschenkel mehr. Die Erfolge von Oscar Pistorius motivierten ihn noch im Krankenhaus für die Leichtathletik. Mittlerweile ist er Deutschlands bester Prothesensprinter - und erzählt Unfallopfern im Krankenhaus von seiner Geschichte.

Manchmal taucht David Behre an einem Bett im Krankenhaus auf. In langen Hosen kommt er ins Zimmer eines Unfallopfers. Er will Mut machen. Dass das Leben auch nach einer Amputation weitergehen kann. Es kann dann vorkommen dass er angeblafft wird, woher er das denn wissen wolle. Dann geht er kurz hinaus und kommt in kurzer Hose wieder herein. Auf Prothesen. Denn seine Unterschenkel hat David Behre verloren.

David Behre gehört zu den Behindertensportlern, die mitreißen wollen.Seine Geschichte behält er nicht für sich allein, sondern will viele von ihr profitieren lassen. Deshalb bringt er sie auch ein- bis zweimal im Monat in Krankenhäuser mit, in Duisburg oder andere Kliniken, in denen er von Unfallopfern hört. „Ich setze auf den Aha-Effekt“, sagt der 28-Jährige über seinen Lange-Hose-kurze-Hose- Auftritt.Und um zu zeigen, was alles nach einem schlimmenUnfall möglich ist, erzählt er auch vom paralympischen 400-Meter-Finale im Olympiastadion von London .In dem er mit dem Athleten gekämpft hat, der ihm selbst Mut gemacht hatte.

Es ist der 8. September 2012. Die Läufer sind auf der Zielgeraden. David Behres Körper will nicht mehr. Seine Oberschenkel brennen. 399 Meter hält er durch, beim letzten Schritt stürzt er. Er fällt ins Ziel, schlägt auf dem Boden auf, ist ausgepumpt. Dann setzt er sich hin, atmet tief durch. Erst jetzt registriert er den Lärm der 80.000 Zuschauer. „It’s a new world record, Oscaaar Pistooorius“, ruft der Stadionsprecher. Behre steht auf und gratuliert dem Sieger Oscar Pistorius, seinem sportlichen Vorbild. Sie umarmen sich. Behre selbst ist Fünfter geworden. In den Katakomben sagt er keuchend: „Es ist ein Wunder, dass ich heute überhaupt hier starten konnte. Und jetzt stehe ich hier auf meinen Prothesen, auf den Tag genau fünf Jahre nach meinem Unfall.“ Es klingt, als habe sich ein Traum erfüllt. Dabei hatte David Behre in seinem Leben eigentlich ein ganz anderes Ziel.

Motocross-Profi wollte er werden. Mit fünf Jahren sitzt er zum ersten Mal auf einer Motocross-Maschine und ist fasziniert von dem Adrenalinkick. Mit 15 will er sich mehr auf die Schule konzentrieren und widmet dem Sport weniger Zeit. Er macht sein Abitur und gründet mit 20 eine eigene IT-Firma. Von seinem Ersparten kauft er sich eine neue Motocross-Maschine, eine grüne Kawasaki. Mit ihr will er sich den Traum vom Profisport erfüllen, Rennen gewinnen, ans Limit gehen. Fünf Tage vor seinem 21. Geburtstag will er sie erstmals im Gelände zu testen. Doch dazu kommt es nicht.

 

Ein medizinisches Wunder

Am 8. September 2007 fährt Behre um fünf Uhr morgens in Moers von der Party eines Freundes mit dem Fahrrad zurück. Knapp 400 Meter von seinem Haus entfernt muss er einen achtgleisigen Bahnübergang überqueren. Der Übergang ist schlecht einsehbar, die Schranke unzuverlässig. Und in jenem Moment geöffnet, obwohl ein Zug kommt. Im Nachhinein wird er erfahren, dass der Wind ungünstig stand, sodass er den Zug nicht hören konnte.

Behre wird vom Zug erfasst und klammert sich, vermutlich reflexartig, über hundert Meter an der Lok fest. Dann hat er keine Kraft mehr und rutscht ab, das linke Bein wird abgefahren, dreißig Meter weiter der rechte Fuß oberhalb des Sprunggelenks. Der Zugführer bekommt von alldem nichts mit. Als Behre aufwacht, liegt er hilflos im Dornnbusch und zittert, weil es draußen so kalt ist. Er registriert, dass seine Beine fehlen, kämpft sich aus eigenen Kräften den Bahndamm hinauf und schreit um Hilfe. Doch niemand hört ihn. „Ich lag da mehr als drei Stunden. Schmerzen hatte ich gar keine, ich hatte wohl riesige Mengen an Adrenalin ausgeschüttet.“ Dann hört eine Anwohnerin seine Rufe und alarmiert den Notarzt. Behre ist bei Bewusstsein, sie redet mit ihm und wird zu seiner Lebensretterin, weil sie ihn findet und wach hält.

Seiner Lebensretterin sagt David Behre noch am Bahndamm, dass er wieder laufen werde. Mit dieser positiven Einstellung geht er auch die ersten Tage im Krankenhaus an. Seine Schwester, seine Eltern, seine Freunde: Alle sind sie in dieser schweren Phase bei ihm und unterstützen ihn. Eine richtige Depression, wie man sie bei einem solch schweren Unfall erwarten könnte, bekommt er nicht. Sein Überleben gilt als medizinisches Wunder. Er will leben und laufen. Vier Tage nach seinem Unfall schaltet er im Krankenhaus den Fernseher ein und sieht einen Bericht über den Prothesensprinter Oscar Pistorius. „Er hat die gleiche Amputationshöhe wie ich, er vollbringt die gleiche Leistung wie nichtbehinderte Athleten – und schlägt sie sogar. Er hat es geschafft. Das auch können zu wollen, war eine Riesenmotivation für mich.“

Oscar Pistorius als Motivator

Behre kämpft sich durch die Reha und lernt, auf Prothesen zu gehen. Er lernt Heinrich Popow kennen, Deutschlands berühmtesten und erfolgreichsten Prothesensprinter, sie verstehen sich auf Anhieb. Für Behre ist klar: Er will Sprinter werden. Sich seinen Traum vom Profisport erfüllen. Nur nicht im Motocross, sondern in der Leichtathletik. Er zieht nach Leverkusen und trainiert mit Heinrich Popow unter Trainer Karl-Heinz Düe. „Zu Beginn musste David als Anfänger viel Lehrgeld bezahlen, weil die Trainingsgruppe sehr leistungsstark ist. Aber ich habe von Anfang an an ihn geglaubt, denn wenn jemand in dem Alter mit so einer Behinderung kommt und sagt, er will das machen, dann steckt ein großer Wille dahinter. Und der ist letztendlich entscheidend“, sagt sein Trainer.

David Behre entpuppt sich als Talent und stürzt so gut wie nie, obwohl er erstmals auf Sprintprothesen steht: „Beim ersten Mal sollte ich die Sprintprothesen nur zehn Minuten anlassen. Aber meine Freude, schnell zu laufen, war so groß, dass ich sie eineinhalb Stunden angelassen habe. Als ich sie ausziehen wollte, war der ganze Schaft voller Blut und ich hatte Schmerzen. Während des Laufens war ich aber so voller Adrenalin, dass ich gar nichts gemerkt habe.“

Der schnellste Europäer „ohne Beine“

Schnell feiert David Behre Erfolge, wird 2009 bei der WM in Indien Vizeweltmeister über 200 Meter und gewinnt Gold mit der 4x100 Meter-Staffel. Zwei Jahre später holt er im neuseeländischen Christchurch den Vizeweltmeistertitel und den Europarekord über 400 Meter. Er ist der schnellste Europäer „ohne Beine“ – und läuft dort erstmals gegen Oscar Pistorius. „Als wir uns getroffen haben, habe ich ihm meine Geschichte erzählt. Er wurde sehr nachdenklich. Dann hat er gesagt: Genau deshalb mache ich das. Ich will motivieren.“

David Behre hat durchgehalten. Obwohl nach einem Meniskusriss und einer Infektion eine Amputation des Knies oder sogar ein Karriere-Ende drohte, kämpfte er sich zurück und startete neun Monate später in London bei den Paralympics, seinem bisherigen Karrierehöhepunkt. Über 400 Meter wird er Fünfter, mit der 4x100-Meter-Staffel holt er sogar eine Bronzemedaille. In diesem Jahr wird er im walisischen Swansea Vize-Europameister über 200 Meter und krönt sich über seine Paradestrecke 400 Meter mit dem Titel.

All das bringt er nun in Krankenhäuser mit. Auch er hätte jemanden gebraucht, der das Gleiche durchgemacht hat und ihm von seinen Erfahrungen und dem Umgang mit der Behinderung in der Anfangszeit erzählt, sagt er. Deshalb will er das jetzt an andere weitergeben. Auch von seinem sportlichen Alltag berichten, dass er montags bis samstags zweimal am Tag trainiert und nur sonntags die Ruhe sucht. Vielleicht wird er in zwei Jahren den Patienten auch noch etwas erzählen können. Dass er sich einen besonderen Traum erfüllt hat. Den von einer Goldmedaille bei den Paralympics in Rio.

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