zum Hauptinhalt

Sport: Politik war gestern

Die Turnbewegung kehrt beim Turnfest an ihre Geburtsstätte zurück – und ignoriert bewusst ihre ideologischen Wurzeln

Berlin - Es ist ein wenig emotionaler Besuch am Geburtsort, keine Rückkehr in die geliebte Heimat. Die Turnbewegung ist wieder in Berlin mit ihrem größten Ereignis, dem Turnfest. Sie ist wieder in der Stadt, in der Friedrich Ludwig Jahn 1811 den ersten deutschen Turnplatz eröffnete. Wenn es einen offiziellen Beginn der Turnbewegung in Deutschland gibt, dann diesen.

Doch von seinem Vater Jahn hat sich die Turnbewegung emanzipiert. Dafür hat sie fast zweihundert Jahre gebraucht. Noch in den 1980er-Jahren wollte die Turnbewegung den Familienfrieden nicht stören und verklärte die Motive Jahns. Er war Nationalist, „ein halber Narr, der die Deutschtümelei ins Fratzenhafte, Widrige trieb, mag auch in seiner Turnerei ein gesunder Kern gesteckt haben“, analysierte Golo Mann.

Die Emanzipation erreicht nun ihren Höhepunkt. Die Veranstalter haben es zum ersten Mal „Internationales Deutsches Turnfest“ genannt. An diesem Sonntag legen Turnfunktionäre am Denkmal Jahns in der Hasenheide einen Kranz nieder, doch es sind Mitglieder des Wiener Akademischen Turnvereins, keine Verantwortlichen des Deutschen Turner-Bundes. Die Veranstalter des Turnfestes haben Jahn nur einen Programmpunkt gewidmet: Am Freitag setzt sich ein Symposion kritisch mit der Geschichte der Turnbewegung auseinander – im Jüdischen Museum.

Damit handelt die deutsche Turnbewegung auf der Höhe der Zeit. Den Zeitgeist hat die deutsche Turnbewegung ohnehin immer gut gespiegelt, auch und gerade in den dunkleren Kapiteln der deutschen Geschichte. Schon Jahn gründet das Turnen nicht zuletzt als politische Bewegung. Der glühende Patriot, ein Hilfslehrer, der wegen Betrügereien und Disziplinlosigkeiten von mehreren Universitäten geflogen war, unternimmt als Maßnahme gegen den angeblichen Verfall der Jugend ausgedehnte Wanderungen mit seinen Schülern, auf denen er sie zu Mut und Tapferkeit erziehen und von der Notwendigkeit eines deutschen Nationalstaates überzeugen will. Seinen Groll erregen vor allem die Franzosen, die unter der Führung Napoleons das geliebte Vaterland besetzt halten. „Wer seine Tochter Französisch lernen lässt, tut nichts Besseres, als wer sie Hurerei lehrt“, poltert er. Aus den Wanderungen entwickelt Jahn schließlich eine Form der Leibeserziehung mit politisch-ideologischem Unterbau, eine Art Wehrlager für den angestrebten Befreiungskrieg gegen die Franzosen. Seine Erfindung nennt Jahn Turnen. Der selbst ernannte Bewahrer der „reinen deutschen Sprache“ glaubt, damit eine seinen Ansprüchen genügende Bezeichnung gefunden zu haben – und übersieht dabei den lateinischen Ursprung des Worts.

Schon kurz nach der Gründung gewinnt das „vaterländische Turnen“ an Fahrt. Als erste national-revolutionäre Bewegung wagt sie den Schritt in die Öffentlichkeit und findet großen Zuspruch. Der Obrigkeitsstaat sieht diese Entwicklung mit Argwohn. Jahn muss wegen Hochverrats sechs Jahre ins Gefängnis, jegliche öffentliche Aktivitäten werden durch die so genannte Turnsperre verboten. Im Stillen jedoch wird weiter geturnt. So ist es keine Überraschung, dass das Turnen nach Aufhebung der Sperre 1842 innerhalb kurzer Zeit die alte Popularität wiedererlangt. Die Niederschlagung der Märzrevolution 1848 bringt die demokratisch gesinnte Turnbewegung zwar abermals ins Stocken, doch sie erholt sich diesmal schneller, zumal der Staat das Massenphänomen für sich nutzen will. Jahn wird rehabilitiert und erhält sogar das Eiserne Kreuz.

Die Strategie zeigt zumindest teilweise Erfolg: Jahn wendet sich vom patriotischen Turnen ab und engagiert sich von nun an für Ruhe und Ordnung. Das Turnen aber zeichnet sich weiter durch eine starke politische Verankerung aus. Als die neu gegründete Deutsche Turnerschaft, der Vorläufer des DTB, 1860 in Coburg das erste Deutsche Turnfest veranstaltet, sind sportliche Aktivitäten im Vergleich zu den Reden und Diskussionen in der Unterzahl. Mit der Gründung des Deutschen Reichs ist 1871 das wichtigste Jahn’sche Ziel erreicht – die ehemals revolutionäre Bewegung fällt in eine Sinnkrise, aus der sie nicht mehr herausfindet. Ideologisch schwenkt die Turnerschaft auf Kaiserkurs ein, die sportliche Betätigung rückt in den Vordergrund und nimmt mehr und mehr drillähnliche Züge an. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist aus der Deutschen Turnerschaft eine in weiten Teilen antidemokratische, militaristische und antisemitische Vereinigung geworden.

In der Weimarer Republik kommt die Turnbewegung nie an. Sie drängt mit ihrer völkisch-militaristischen Einstellung nach rechtsaußen. Ihr verhängnisvoller Weg endet bald in den Armen der Nationalsozialisten. Immer mehr radikalisiert sich die Bewegung, auch in seinem Antisemitismus und Rassismus. Als die Nazis 1933 die Macht ergreifen, zählen die Deutschen Turn- und Sportvereine zu den ersten Organisationen, die ihre jüdischen Mitglieder ausschließen. Im Mai 1933 bietet Turnführer Neuendorff in einem Brief Hitler an, „daß die Deutsche Turnerschaft sich unter Ihrer Führung Seite an Seite neben SA und Stahlhelm stellt“. Doch Hitler hat andere Pläne, die Turnbewegung wird aufgeteilt, die Turnerjugend in die Hitlerjugend überführt. „Die Deutsche Turnerschaft hatte sich uneingeschränkt in den nationalsozialistischen Machteroberungsprozess eingebunden. Damit war die organisatorische Selbstauflösung am 18. April 1936 folgerichtig und konsequent der letzte Schritt in der Entwicklung der deutschen Turnbewegung der 20er und 30er Jahre“, schreibt der Sporthistoriker Lorenz Peiffer.

Die Massenbewegung des Turnens macht sich auch die SED-Führung in der DDR zunutze. Bei den Turn- und Sportfesten in Leipzig verwandeln Teilnehmer die Osttribüne des Zentralstadions in einen Parolenteppich. „DANK DIR PARTEI“ zeigen sie in einer Choreografie aus bunten Tüchern an oder „ROTSPORT LEBT“. Das Militärische, Stramme, Disziplinierte spielt eine große Rolle, auch wenn die Teilnehmer vor allem den Spaß an der Bewegung empfinden.

Warum hat sich gerade das Turnen politisch so oft missbrauchen lassen? Vielleicht, weil es ein lohnendes Objekt war wegen seines Charakters als Massenbewegung. Wohl auch, weil es sich von seinem Beginn an selbst politisch aufgeladen und diese Tradition stets gepflegt hat. Erst jetzt scheint sich die Turnbewegung von dieser Vergangenheit gelöst zu haben.

Zur Startseite