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Sport: Portugal - Frankreich: "Er kann sich doch nicht die Hand abhacken"

117. Minute, noch drei Minuten.

117. Minute, noch drei Minuten. Die beiden Trainer überlegen schon, wer beim gleich folgenden Elfmeterschießen die fünf sein sollen, die anzutreten haben. Portugiesen und Franzosen halten den Ball in den eigenen Reihen, keiner will sich kurz vor dem Ende das Golden Goal einfangen. Diesen Treffer in der Verlängerung, nach dem alles vorbei, das Spiel entschieden ist. 1996 bei der EM in England schoss Oliver Bierhoff die Deutschen durch sein goldenes 2:1 zum Europameisterschafts-Titel.

Niemand wagt mehr etwas. Und dann doch: Deschamps passt in den portugiesischen Strafraum auf Trézeguet, Torwart Baia wirft sich ihm entgegen - und Wiltords Nachschuss aus spitzem Winkel fliegt auf Portugals blondierten Abwehrspieler Abel Xavier zu, der die kurze Ecke abdeckt.

Was mag sich der 1,88 m große Xavier in diesem Moment bloß gedacht haben? Im Stile eines Handballtorwarts taucht er hinunter. Geht seine linke Hand zum Ball? Ist es ein Reflex? Oder wird er nur angeschossen bei seiner Rettungstat? Noch in vielen Jahren wird man in Portugal darüber diskutieren. Die Fernsehbilder, immer und immer wieder gezeigt, scheinen zu beweisen, dass die Hand zum Ball geht. Xavier bleibt sofort auf dem Bauch liegen, er verbirgt sein Gesicht im Gras, während die Franzosen heftig protestieren und immer wieder auf ihren Arm deuten. "Was soll Abel denn machen, er kann sich doch die Hand nicht abhacken", schimpft der große Luis Figo.

Schiedsrichter Günter Benkö hat nichts Regelwidriges gesehen, will weiterspielen lassen. Aber kerzengerade steht an der Außenlinie der slowakische Linienrichter Igor Sramka und hebt seine Fahne, um etwas anzuzeigen. Schieds- und Linienrichter verständigen sich kurz. Der Slowake ist sich sicher: Handspiel von Xavier. Benkö zeigt auf den Elfmeterpunkt.

Innerhalb von Sekunden hat sich eine Traube aus portugiesischen Spielern um den Linienrichter gebildet. Da wird geschubst und geschimpft. Völlig unsinnigerweise zieht der Uefa-Delegierte Odd Flattum aus Norwegen Portugals Trainer Humberto Coelho weg, der nur versucht, seine Spieler zu beruhigen. Luis Figo hat bereits sein Trikot ausgezogen, "weil ich keine Lust mehr hatte, weiterzuspielen. Wir sind nur ein kleines Land, das man nicht im Finale haben wollte." Joao Pinto macht Handzeichen, sein Team solle doch das Feld verlassen.

Nach fünf Minuten hat sich die Lage so weit entspannt, dass Frankreichs Star Zinedine Zidane endlich schießen kann. Unhaltbar verwandelt er zum 2:1. Frankreich ist im Finale - und die Portugiesen sind nicht mehr zu halten. Eine Gruppe schart sich um den Schiedsrichter, beschimpft ihn, rempelt ihn an. Nuno Gomes bekommt im allgemeinen Durcheinander die Rote Karte gezeigt. Die andere Gruppe macht Jagd auf den Slowaken. Joao Pinto wirft Benkö sein Trikot vor die Füße. Und immer wieder rangeln auch Portugiesen untereinander: diejenigen, die die Nerven verloren haben, mit denen, die sich trotz aller Wut beherrschen können.

Und mittendrin ist dieser Mann im grauen Anzug mit einem weißen Handtuch um den Hals. Er zerrt Portugiesen weg, beruhigt sie, stellt sich schützend vor Benkö. Keiner wagt es, sich ihm zu widersetzen. Ein ruhender Pol in einem Meer aus Wut, Trauer und Aggression. Dieser Mann ist Eusebio, die Fußballlegende Portugals. Er ist auch der Erste, der einzelnen französischen Spielern gratuliert. Die meisten Portugiesen verstehen das Zeichen. Lange umarmen sich die Torhüter Vitor Baia und Fabien Barthez. Trikots werden getauscht. Arm in Arm gehen Paulo Bento und Robert Pires vom Platz.

Und doch: Vergessen ist dieses ungewöhnliche Ende eines außergewöhnlichen Fußballspiels keineswegs. Portugals Verbandspräsident Gilberto Madail philosophiert über das "Schiedsrichterwesen in der Slowakei, das nicht weit fortgeschritten ist". Trainer Humberto Coelho verkündet noch in der Nacht der Trauer seinen Abschied. Die passende Schlagzeile liefert die belgische Zeitung "Le Soir" in Anspielung auf ein ebenso legendäres wie irreguläres Tor des Argentiniers Diego Maradona: "Abels Hand war nicht die Hand Gottes."

Sebastian Arlt

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