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Genial oder rumpelig? Özil oder Gomez?

© dpa

Pro und Contra zur EM: Was bleibt aus deutscher Sicht?

Einerseits ist die Nationalelf bei der EM zu früh ausgeschieden. Andererseits hat sie schöne Spiele gezeigt. Was bleibt aus deutscher Sicht von diesem Turnier - ein gutes oder schlechtes Gefühl?

Schlechtes Gefühl: Lieber rumpelig gewinnen als schön verlieren, findet Lars Spannagel

Die größte Hoffnung am Donnerstagabend machte mir Sami Khedira. Während die meisten deutschen Spieler auf dem Rasen zusammenbrachen, stürmte Khedira nach dem 1:2 gegen Italien wutentbrannt in die Kabine. Aus seinen stampfenden Schritten sprach mehr als Enttäuschung – der Mittelfeldspieler hat bei José Mourinho in Madrid eben gelernt, dass nur Siege und Titel zählen. Ich gebe hiermit zu: So denke ich auch.

Dieser Text soll kein Beitrag zur „Männer oder Memmen“-Diskussion oder der „Wir brauchen Eier“-Debatte sein, die gerade im deutschen Boulevard angezettelt werden. Ich bin auch keineswegs der Meinung, Joachim Löw sei ein schlechter Trainer und müsse zurücktreten: Im Gegenteil, ich kann mir keinen besseren Chef für die deutsche Mannschaft vorstellen. Vielmehr geht es mir um das Gefühl, das die deutsche Mannschaft wieder einmal bei mir hinterlässt. Der Geschmack dieser EM war süß beim ersten, zweiten und dritten Bissen und ist unendlich bitter im Abgang, wie schon bei den vergangenen Turnieren. Und das, liebe Freunde des schönen Spiels, ist nun einmal das, was hängen bleibt.

Natürlich bin auch ich entzückt, wenn Mesut Özil den Ball streichelt oder Hummels unter großem Druck noch elegant den freien Mann findet. Niemand will Holzfüße und Rumpelköpfe sehen, wenn er Zauberkünstler und Artisten haben kann. Für einen Titel würde ich aber auch in Kauf nehmen, dass Fredi Bobic in der 78. Minute einen verunglückten Schuss von Steffen Freund mit dem Steiß ins Tor abfälscht und Jens Nowotny danach bis zum Abpfiff jeden Ball unter das Tribünendach jagt. Solange es sportlich fair bleibt, sind mir alle noch so plumpen fußballerischen Mittel recht. Ich hätte mich auch nicht geschämt, wenn Oliver Kahn 2002 im Finale von Yokohama erneut alles gehalten hätte und Deutschland mit dem vierten 1:0-Sieg in Folge Weltmeister geworden wäre.

Mittlerweile scheint es in Deutschland eine grundlegende Unterscheidung in schönen und hässlichen, falschen und richtigen, guten und schlechten Fußball zu geben, zumindest wenn es um die Nationalmannschaft geht. Kein Schalke-, Werder- oder Hertha-Fan würde sich für eine ermauerte Meisterschaft genieren, die Nationalelf aber soll bitteschön über den Platz schweben. Ich halte das für Blödsinn. Zumal ohnehin klar ist, dass es Turniersiege ohne technische und taktische Klasse im modernen Fußball nicht mehr geben wird. Wer wird sich in ein paar Jahren an ein 4:2 gegen Griechenland erinnern? Wissen Sie vielleicht noch, wer vor zwei Jahren die vier Tore im Viertelfinale gegen Argentinien geschossen hat? Sind die Deutschen in der Welt jetzt beliebter, weil unser Spiel an guten Tagen so schön vertikal ist? Was nützt der Titel in Gedanken?

Ich will, dass die deutsche Nationalmannschaft endlich wieder ein großes Turnier gewinnt – nichts weniger darf auch der Anspruch einer Mannschaft sein, die derart talentiert ist. Natürlich wäre es mir am liebsten, wenn sich die Deutschen beim nächsten Turnier zum Weltmeistertitel tanzen, ich würde aber auch einen erstolperten vierten Stern auf dem Trikot mit Freuden annehmen. Zumindest für mein Fan-Herz gilt: The winner takes it all.

Gutes Gefühl: Titel sind nicht alles, findet Ron Ulrich

Joachim Löw muss sich derzeit vorkommen wie Charlie Brown. Der Hauptdarsteller der Comic-Serie „Die Peanuts“, der seiner Baseballmannschaft immer wieder sagt, dass man ganz nah dran sei – und dann doch verliert. Und sich danach von allen anhören muss: „Du bist schuld, Charlie Brown.“ Du bist schuld, Jogi Brown. Dabei war Löw einige Tage zuvor in den Zeitungen und bei den Fans noch der beste Trainer aller Zeiten, cooler als Steve McQueen, prädestiniert für das Amt des Bundespräsidenten, „Wetten dass“-Moderators und Papstes in Personalunion.

Dazwischen lag ein schwaches Spiel der Nationalmannschaft gegen Italien, das Halbfinalaus und eine falsche Aufstellung des Bundestrainers. Doch das allein erklärt nicht das Ausmaß der harschen Kritik. Vielmehr fühlen sich zum einen viele in Deutschland, die die Hoffnung auf den Titel mit der Garantie darauf verwechselt haben, um eine große Party betrogen. Und zum anderen bricht sich das Bahn, was schon lange köchelte, doch durch den Erfolg auf kleiner Flamme gehalten wurde: die Skepsis gegenüber der Philosophie dieser Mannschaft. Dieses „Leichte, Unideologische, Tänzerische“, was der „Spiegel“ dem Team 2010 bescheinigte, dieser Offensivfußball und diese flache Hierarchie – das Lob dafür war nur auf Bewährung. Damals waren die Spieler die Gesichter der multikulturellen, offenen und umgänglichen Generation junger Männer, heute gelten sie als profillose Memmen. Mesut Özil wurde der Integrations-Bambi in die Hand gedrückt, nun soll er erklären, warum er die Hymne nicht laut mitsingt.

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Für die Deutschen steht der Titel noch immer über allem , Erfolg und Effektivität sind die Zauberworte im Land der Autobauer. Viele wollen einfach nur gewinnen – egal wie. Und sei es, dass die Mannschaft 90 Minuten über den Platz stolpert, dann aus Abseitsposition das 1:0 macht, indem der Stürmer den gegnerischen Torwart mitsamt Ball über die Linie ringt. Dann fletschen sie die Zähne und sagen den Satz von Gary Lineker, des einzigen Briten, der hierzulande noch häufiger zitiert wird als William Shakespeare: „Am Ende gewinnen immer die Deutschen.“

Der französische Radfahrer Raymond Poulidor scheiterte stets daran, die Tour de France zu gewinnen. Er galt als „ewiger Zweiter“ und wurde dennoch für seinen Kampf geliebt, er war populärer als die Sieger. Den meisten deutschen Fußball-Fans wird es schwerfallen, ad hoc den Pokalsieger und Meister 2002 zu benennen. Viel schneller kommt das Team in den Sinn, das in diesem Jahr in drei Wettbewerben Zweiter wurde – Bayer Leverkusen. Neben den Erinnerungen an die Tränen von Reiner Calmund bleiben die unglaublichen Spiele in der Champions League im Gedächtnis. Klaus Toppmöllers Mannschaft fegte über Liverpool oder Manchester United hinweg.

Während dieser EM standen in der Nacht irische Fans mit deutschen an einem Tisch in Polen und schoben Flaschen auf dem Tisch hin und her. Sie spielten die Szenen der WM 2010 nach, die Tore der Deutschen. Wie Thomas Müller am Boden liegend auf Lukas Podolski spielt und der in den Lauf von Miroslav Klose, der zum 2:0 gegen Argentinien einschießt. „Brilliant“, sagten sie. Es sind diese Momente, die mehr wert sind als die Änderung des Briefkopfes. Wer das anders sieht und Ergebnisfußball will, soll das tun. Aber dann auch nicht vergessen, die Jacketkronen zu bezahlen.

Alle anderen könnten sich solidarisieren und das Charlie-Brown-Hemd anziehen. Der hat auch einmal ein Spiel gewonnen. Natürlich wurde ihm der Sieg danach wieder aberkannt.

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