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Es gibt immer einen Grund zum Feiern. Selbst nach dem aufwühlenden 3:3 in Leverkusen, wie Berlins Torhüter Thomas Kraft (l.) und Kotrainer Ante Covic zeigen.

© dpa

Punktgewinn oder Punktverlust?: Herthas Overkill an Emotionen

Ein Spiel als Spiegelbild einer ganzen Saison: Beim kuriosen 3:3-Unentschieden in Leverkusen erlebt Hertha BSC die ganze Wucht des Abstiegskampfes.

Kurz nach dem Abpfiff war die Verwirrung immer noch groß. In der linken Ecke breitete Thomas Kraft seine Arme aus und nahm seinen Torwarttrainer Christian Fiedler in Empfang. Sie herzten sich, und nachdem auch noch Ersatzmann Sascha Burchert in ihrem Kreis Aufnahme gefunden hatte, wagten die drei Torhüter von Hertha BSC auf dem Rasen der Bayarena ein kleines Tänzchen. In der rechten Ecke kroch Christian Lell zur gleichen Zeit die Wut aus jeder Körperöffnung. Die Mannschaft sammelte sich zum Gang in die Fankurve, Lell aber wäre am liebsten sofort in die Kabine gestürmt. Sieg oder Niederlage? Das war nach dem 3:3-Unentschieden des Berliner Fußball-Bundesligisten bei Bayer Leverkusen die Frage.

„Wenn man das Spiel so dreht, sind das zwei verlorene Punkte“, sagte Christian Lell. Sein Kollege Thomas Kraft, der beim Stand von 1:2 einen Elfmeter und damit seine Mannschaft im Spiel gehalten hatte, war mit etwas Abstand ebenfalls zu einer etwas weniger egozentrischen Bewertung des Geschehens gelangt. Es gebe keinen Grund, sich zu freuen, sagte der Torhüter, weil aus drei Punkten nach Stefan Kießlings Tor zum 3:3 kurz vor Schluss nur einer geworden war, „aber dieser Punkt kann letztendlich auch wichtig sein“.

Hertha war hin- und hergerissen nach dieser irren Begegnung mit dem Europapokalanwärter aus Leverkusen. „Es war ein denkwürdiges Spiel“, sagte Trainer Otto Rehhagel. „Man hat gesehen, dass wir uns noch nicht aufgegeben haben. Alle fighten wie die Löwen.“ Kurz nach der Pause lagen die Berliner gegen die eigentlich uninspirierten Gastgeber scheinbar aussichtslos 0:2 zurück. Dem Anschlusstreffer durch den eingewechselten Pierre-Michel Lasogga folgte nur zwei Minuten später der nächste Schlag. Nach einem leichten Zupfer von Lewan Kobiaschwili gegen Eren Derdiyok gab Schiedsrichter Weiner Elfmeter und zeigte Herthas Kapitän die Rote Karte. Aber Kraft hielt den Strafstoß, und der ebenfalls eingewechselte Tunay Torun brachte die Berliner in Unterzahl anschließend mit zwei Toren sogar 3:2 in Führung. Hertha war zu diesem Zeitpunkt bis auf einen Punkt an den rettenden Platz 15 herangerobbt. Doch dann traf Leverkusen, kurz darauf Mitkonkurrent Augsburg in Wolfsburg, und aus einem Punkt Abstand waren plötzlich fünf geworden.

Die Berliner erlebten in Leverkusen einen Overkill an Emotionen. Es war alles dabei, was man sich vorstellen konnte: Resignation und Hoffnung, Stolz und Trotz, Verzweiflung und Freude, Trauer und Wut. Mit anderen Worten: Hertha bekam die ganze Wucht des Abstiegskampfes zu spüren. „Eigentore, Platzverweise – vieles ist gegen uns“, sagte Kobiaschwili. „Aber wir glauben immer an uns.“ Dabei war das mehr als ehrenwerte Unentschieden in Leverkusen durch die Siege der Konkurrenz komplett entwertet worden. Drei Spieltage vor Saisonende ist die direkte Rettung zur Illusion geworden. Herthas letzte Hoffnung heißt inzwischen Relegation. „In unserer Hand haben wir es nicht mehr“, sagte Thomas Kraft. „Wir müssen auf die anderen schauen und hoffen.“ Die anderen, das sind in diesem Fall der 1. FC Köln als Sechzehnter und seine Gegner Stuttgart, Freiburg und Bayern München.

Das Spiel in Leverkusen nährt die Hoffnung auf ein glückliches Ende – und entzieht ihr zugleich jegliche Grundlage. Viele Leute hätten daran gezweifelt, dass die Mannschaft die Moral für den Abstiegskampf besitze, sagte Kobiaschwili. „Heute haben wir es bewiesen.“ Aber genauso hatte sich gezeigt, dass Hertha in den entscheidenden Wochen der Saison die Konstanz fehlt, im Kleinen wie im Großen.

Die 90 Minuten in der Bayarena wirkten wie eine Kurzversion der gesamten Spielzeit. Das, was die Mannschaft sich mit den Händen aufbaut, reißt sie sich mit dem Hintern wieder ein. Jedem Aufbäumen folgt der nächste Rückschlag – und umgekehrt.

Im Grunde befindet sich Hertha in einer ähnlichen Lage wie eine Woche zuvor nach dem ebenfalls bemerkenswerten Unentschieden in Mönchengladbach. Wieder hat die Mannschaft ein vermeintlich leichtes Heimspiel vor der Brust (damals Freiburg, jetzt Kaiserslautern). Wieder muss sie unbedingt gewinnen. Und wieder zweifelt niemand an einem Erfolg. Der 1. FC Kaiserslautern ist de facto abgestiegen, hat sechs Mal hintereinander verloren, in dieser Zeit ganze drei Tore erzielt. Einen leichteren Gegner kann es für Hertha in schwieriger Zeit gar nicht geben. Das ist genau das, was vielen Fans der Berliner Angst macht.

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