zum Hauptinhalt
Schatten eines Radfahrers auf der Havelchaussee in Berlin.

© Michael Wiedersich

Radkolumne „Abgefahren“: Berlin ist mein Mallorca

Unser Kolumnist wollte zuletzt eigentlich auf Mallorca radeln. Doch weil das bis auf Weiteres nicht möglich ist, fährt er nun täglich durch den Grunewald.

Michael Wiedersich ist Sportjournalist und Radsporttrainer. Hier schreibt er im Wechsel mit Läuferin Jeannette Hagen.

Die Trainingswoche auf Mallorca mit den beiden Kunden wäre vor ein paar Tagen vorbei gewesen. Mit leicht angebräuntem Teint, den obligatorischen Radfahrerstreifen an Armen und Beinen und vielen Kilometern hätte uns der Flieger wohlbehalten wieder in Tegel abgeliefert. Mit einem Lächeln würden wir hier Schneefall und die kalten Temperaturen locker ertragen. Wäre, hätte, würde, aus bekannten Gründen mussten nicht nur wir auf den geplanten Besuch der Baleareninsel verzichten. Also diesmal kein Puig Major, kein Coll d’Honor und auch kein mallorquinischer Mandelkuchen. Als durch die Ausgangsbeschränkungen in Berlin ein Training zu dritt auch nicht mehr in Frage kam, war Improvisationsvermögen gefragt.

[Mehr guten Sport aus lokaler Sicht finden Sie – wie auch Politik und Kultur – in unseren Leute-Newslettern aus den zwölf Berliner Bezirken. Hier kostenlos zu bestellen: leute.tagesspiegel.de]

In Anbetracht der kühleren Witterung verordnete ich meinen beiden enttäuschten Schützlingen ein etwas geändertes Trainingsprogramm, das sie allein oder zu zweit absolvieren konnten. Es muss ja weitergehen und dann fängt man wenigstens nicht bei Null an. Ich selbst wollte auch nicht untätig sein und versuchte aus der Situation das Beste zu machen. Die Havelchaussee wurde zu meinem persönlichen Hotspot.

Die knapp zehn Kilometer lange Straße durch den Grunewald begleitet mich schon mein ganzes Radfahrerleben. Zu Mauerzeiten gehörte sie zur Standard-Trainingsstrecke der West-Berliner Radsportler. Und das nicht ohne Grund.

Der Uferweg entlang der Havel bietet mit das anspruchsvollste Terrain in Berlin, wenn man auf dem Straßenrad unterwegs ist. Höchster Punkt ist der Karlsberg, unter Radfahrern nur als „Willi“ bekannt. Sagenhafte 75 Meter hoch soll er sein, manche reden sogar von 84 Metern. Das ist natürlich kein Vergleich zu den klassischen Bergen bei der Tour de France oder dem Giro d’Italia. Doch selbst nach einem dreiwöchigen Mallorca-Aufenthalt tut die 900 Meter lange Steigung von der Lieper Bucht zum Grunewaldturm noch weh.

1987 führt eine Etappe der Tour de France auch über den Karlsberg

Trotzdem ist für das Sammeln von vielen Höhenmetern und Kilometern etwas Fantasie bei der Rundengestaltung nötig. Und damit das Ganze nicht zu langweilig wird, ist es ratsam, temporär das Gehirn auszuschalten. Wenn man sich darauf einlässt, kann es aber auch Spaß machen. Immerhin ist die Havelchaussee aus Radfahrer-Sicht geweihte Erde. Beim Start der Tour de France 1987 in Berlin führte hier auch eine Etappe entlang, mit Bergwertung auf dem Karlsberg.

Mehrmals täglich ging es also für mich den Endmoränen-Hügel aus der Eiszeit hinauf und hinunter. Dazwischen folgte zur Auflockerung ein Abstecher nach Schwanenwerder oder es ging am Olympiastadion entlang, mindestens 100 Kilometer am Stück sollten es schon sein. Das gelang mal mehr und mal weniger gut. Ab und an schaute ich mir dann zuhause mit etwas Wehmut den Wetterbericht von Palma an. Glück gehabt, denn so ganz optimal wäre es dort mit Wind, Regen und frischen Temperaturen wohl auch nicht gewesen.

Ein wenig Mallorca-Feeling kam dann doch auf. Denn durch die intensive Märzsonne habe ich tatsächlich eine leichte Bräunung im Gesicht bekommen. Und auch die Kulturbeauftragte des Hauses hielt ein kleines Trostpflaster für mich bereit: Nach einem langen Training stand plötzlich ein duftender mallorquinischer Mandelkuchen auf dem Tisch, mit ganz viel Liebe selbstgemacht. Wozu brauche ich jetzt eigentlich noch Mallorca?

Michael Wiedersich

Zur Startseite