zum Hauptinhalt

Radsport und Doping: Was bleibt von der Tour de France?

Heute endet das größte Radrennen der Welt. Doch in Deutschland ist die Zurückhaltung von Fans, Medien und Veranstaltern spürbar. Das Dopingproblem ist nach wie vor ungelöst – hier beantworten wir die wichtigsten Fragen.

Wie steht es um das Image der Tour?

Gut, denn sie ist viel größer als jeder Skandal. 1903 wurde sie erfunden, als Spektakel zur Auflagensteigerung der Zeitung „L’Auto“. Die Leistung der Fahrer war von Anfang an extrem, aber der eigentliche Grund für den Erfolg der Tour ist ihre Literarisierung und Überhöhung, die fester Bestandteil der Berichterstattung ist. „Nicht die Helden machen die Tour, die Tour macht die Helden“, sagt auch ihr aktueller Direktor Christian Prudhomme. Die Tour ist ein wandernder französischer Nationalfeiertag. Alle Regionen, alle sozialen Schichten und alle Altersklassen der Bevölkerung sind dabei und können – kostenlos wie bei keinem Großereignis sonst – an der Begeisterung teilhaben. Im Fernsehen ist sie nicht zu sehen, wichtiger Bestandteil des dreiwöchigen Volksfestes ist aber die dem Feld vorausfahrende kilometerlange Werbekarawane, ein Karnevalszug mit 16 Millionen Wurfgeschenken für das Fußvolk.

Hat durch die Dopingfälle der vergangenen Jahre die Begeisterung für den Radsport an sich gelitten?

Doping gibt es schon immer. In den Zwanzigerjahren präsentierten die Fahrer stolz ihre Cocktails aus Strychnin, Koffein, Kokain und Alkohol, erst seit den sechziger Jahren gibt es offizielle Verbote. Den „guten“ Radsport, der von seiner „Krankheit“ Doping befreit werden muss, hat es nie gegeben. Die Faszination der Ritter der Landstraße besteht aber eigentlich in der Paradoxie, dass sie Übernatürliches auf natürlichem Wege vollbringen. Deswegen sinkt mit zunehmendem Wissen um Doping die Begeisterung. Eigentlich. Denn mit dem weltweiten Körperboom und der zunehmenden Chemisierung der Gesellschaft verschieben sich die Grenzen für das, was toleriert wird. Aufregung und moralische Entrüstung nahmen in den vergangenen Jahren mehr und mehr ab.

Konnte denn in diesem Jahr systematisches Doping verhindert werden oder hat es sich nur besser tarnen können?

Nach wie vor sind die Doper den Kontrolleuren einen Schritt voraus, mindestens. Naturgemäß kann ein Nachweisverfahren erst entwickelt werden, wenn ein Präparat in Umlauf ist. Auch in diesem Jahr gab es zwei neue Mittel, die wohl von mehreren benutzt wurden, für die es aber noch keinen Test gibt. Das klassische Doping mit Eigenblut, mit dem die Ausdauerfähigkeit erhöht wird und die Leistungsfähigkeit um etwa fünf Prozent gesteigert werden kann, ist nach wie vor nicht feststellbar. Der eine Doping-Fall dieser Tour – bei dem Russen Alexander Kolobnew wurde ein Mittel festgestellt, das zur Maskierung anderer Präparate dient – war nur eine Randnotiz. Das Image des Radsports geprägt haben in den vergangenen Jahren die Geständnisse vor allem deutscher Spitzenfahrer, die das systematische Doping in den Teams offenlegten wie in keiner anderen Sportart.

Lesen Sie mehr auf Seite zwei.

Der Verdacht rollt mit. Das Feld der Tour de France.
Der Verdacht rollt mit. Das Feld der Tour de France.

© REUTERS

Wer schaut noch Tour de France?

Außer den Deutschen alle. ARD und ZDF übertragen in diesem Jahr für die übriggebliebenen Zuschauer letztmals live, mit schwachen Quoten. Die meisten deutschen Zeitungen berichteten wie in den vergangenen Jahren zurückhaltend – auch der Tagesspiegel. In anderen Ländern dagegen war das Interesse immens. Der Franzose Thomas Voeckler trug mit von ihm jahrelang ungekannten Leistungen zehn Tage lang das Gelbe Trikot, der Marktanteil der Übertragungen lag bei bis zu 60 Prozent. Norwegen mit den Erfolgen von Thor Hushovd und Edvald Boasson Hagen erlebte einen wahren Boom, auch aus Belgien, den Niederlanden und Dänemark wurden erstaunliche Zahlen gemeldet. In Deutschland fehlt ein erfolgreicher, unbelasteter Fahrer, bis der Spruch gilt: „Doping war gestern, heute ist Gelb.“ Es gibt einige Talente wie John Degenkolb oder Sonny Kittel, bei denen man sich fragt, wie sie in den Jahren der Verdammnis ihr Training durchgehalten haben, während sie vom Straßenrand aus verhöhnt wurden. Inzwischen scheint aber eine Art Karenzzeit nach dem Fall von Jan Ullrich abzulaufen, die deutsche Sportwelt scheint langsam wieder bereit zu sein für einen neuen Radhelden. Ob ihn aber die frühere Unbeschwertheit des Publikums begleiten wird, ist fraglich.

Warum unterscheiden die Deutschen nicht zwischen Doping und dem Genuss des Rennens?

In Italien und Spanien beispielsweise gehört nach Meinung des Philosophen und Hobby-Radsportlers Peter Sloterdijk die katholische Tradition der fröhlichen Selbstzerstörung zur Volkskultur. Die Abspaltung des Scheins vom Sein ist Teil der populären Metaphysik; die Radhelden wie in Italien Ivan Basso oder in Spanien Alberto Contador sind und bleiben Helden. Die Deutschen, speziell die protestantischen, wollen dagegen laut Sloterdijk die Wörter und die Dinge wieder zur Deckung bringen. Deutschland sei die einzige Nation auf der Welt, in der man an ehrliche Neuanfänge glauben will. Sloterdijk trägt bei seinen Ausfahrten gerne ein Gelbes Trikot.

Welche Bedeutung hat die Tour de France für den deutschen Radsport?

Als das Radrennen eine große, obwohl das Verhältnis kein innig gewachsenes ist. Die breite Begeisterung ist tatsächlich vom aktuellen Erfolg nationaler Radhelden wie einst Rudi Altig oder Dietrich Thurau abhängig, die Enttäuschung über den großen Radsport-Sohn der Nation, Jan Ullrich, war mindestens so groß wie das vorherige Mitfiebern. Hierzulande begann damit die große Krise des Radsports, Rundfahrten wie die Deutschland-Tour und viele andere Veranstaltungen wurden eingestellt. Angebunden an ein großes Jedermann-Rennen fand in Berlin in diesem Jahr zum ersten Mal seit langem wieder ein Profirennen statt, die Stadt bewirbt sich jetzt sogar als werbewirksamer Startort der Tour für 2016 oder 2017. Der Radsport hat in Deutschland durchaus eine Bedeutung, aber keine so große wie in Italien oder Spanien. Dafür hat der Bund Deutscher Radfahrer als Organisation für Leistungs- und Breitensport 150 000 Mitglieder.

Wie geht es mit der Tour de France weiter?

2006, im Jahr des großen Dopingskandals „Operacion Puerto“, stellte der damalige Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc einen „wunderbar ermutigenden Widerspruch“ fest. Vor ein paar Jahren sah es so aus, als ob die Gottheit Tour zu den Sterblichen hinabgestiegen sei. Sie machte sich selbst mit dem erklärten Kampf gegen Doping zum handelnden Akteur und profanisierte sich dadurch. Sie sah sich dazu genötigt, weil nicht mehr zwischen drei eigentlich verschiedenen Dingen unterschieden wurde: Doping, Radsport und Tour de France. Inzwischen ist die Unterscheidung beim Publikum trennschärfer. Man könnte auch sagen, dass es sich seiner Schizophrenie besser bewusst ist.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false