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Reinhard Heß

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Reinhard Heß: Seine Fahne hing nicht nach dem Wind

Reinhard Heß prägte als Trainer eine Ära des deutschen Skispringens. Doch den Trubel mied der Thüringer stets. Ein Nachruf.

Vielleicht war der 18. Februar 2002 der glücklichste Tag im Leben des Skisprungtrainers Reinhard Heß. Vor dem Mannschaftsspringen bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City lastete ein beispielloser Erwartungsdruck auf ihm, dem damaligen Bundestrainer. Alles andere als eine Goldmedaille wäre eine Enttäuschung gewesen. Sven Hannawald hatte zwar auf der Normalschanze Silber gewonnen, doch nach seinem historischem Vierfachtriumph bei der Vierschanzentournee zwei Monate zuvor wirkte diese Medaille wie ein Trostpreis. Beim Springen von der Großschanze war der Flugkünstler sogar gestürzt. Blieb nur noch das Mannschaftsspringen.

Das deutsche Team führte mit fünf Punkten vor den Finnen, doch als letzter Springer ging ausgerechnet Martin Schmitt in die Spur, der Krisenspringer der vergangenen Monate. Er flog weit, aber nicht weit genug. Zwei Meter fehlten ihm auf den Finnen Janne Ahonen, die Wertung der Punkterichter musste entscheiden. Die Dramatik stieg. Schmitt wollte gar nicht mehr aufstehen, er saß in der Hocke im Auslaufraum und starrte wie alle anderen auf die Anzeigentafel. Eine halbe Ewigkeit später leuchtete sie auf: Gold für Deutschland, mit dem geringstmöglichen Vorsprung – 0,1 Punkte. Die deutschen Skispringer warfen sich ausgelassen auf Martin Schmitt. Reinhard Heß aber zog sich nach der Siegerehrung zurück. Er wollte seinen vielleicht größten Erfolg im Stillen genießen. Trubel lag dem eigenwilligen Trainer nicht. In diesem Moment schien es, als sei Glück sein ständiger Begleiter.

Es hat einige glückliche Momente in seinem Leben gegeben. Von seinem privaten Glück einmal abgesehen – 42 Jahre lang ist er mit Regina Heß verheiratet gewesen, eine Tochter, zwei Enkelkinder – hat er zahlreiche sportliche Höhepunkte erlebt. Seine Trainerkarriere begann er beim SC Motor Zella-Mehlis, später feierte er als DDR-Cheftrainer mit Jens Weißflog erste Erfolge. Seine große Zeit aber begann, als er nach den Misserfolgen der deutschen Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 1993 zum Bundestrainer ernannt wurde. Er führte ein Team aus ost- und westdeutschen Springern zusammen, lotste Jens Weißflog zurück an die Weltspitze (Olympiasieg 1994 in Lillehammer) und baute Dieter Thoma (Bronze 1994 in Lillehammer) auf. Nach ihren Rücktritten feierte er mit der nächsten Generation – Martin Schmitt und Sven Hannawald – Erfolge. Als „Mann mit der Fahne“ wurde er bekannt, weil er in der erfolgreichsten Zeit der deutschen Skisprunggeschichte immer mit der Deutschlandfahne am Schanzentisch seinen Schützlingen das Signal zum Absprung gab. Aufgrund seiner Meriten konnte der Deutschen Skiverband einen Vertrag über 70 Millionen Euro mit dem Sender RTL abschließen. Doch mit den Erfolgen wuchs der Rummel, mit dem der bodenständige Thüringer kaum zurechtkam. „Vor drei Jahren fand ich es schrecklich“, gab er im Frühjahr 2003 zu. Kurz darauf erlebte er den unglücklichsten Moment seiner Karriere. Von dem er sich nie wieder erholen sollte.

Im April 2003 musste Heß seinen Rücktritt als Bundestrainer bekannt geben. Erstmals hatten die deutschen Springer bei der WM keine Medaille geholt. Doch die Unzufriedenheit mit dem großväterlichen Cheftrainer war schon vorher gesät worden. Vor allem von Kotrainer Wolfgang Steiert. Der Heimtrainer von Martin Schmitt und Sven Hannawald hatte offen seine Ambitionen auf den Chefposten bekannt gegeben, später unterstützte ihn auch Sven Hannawald und sprach sich intern gegen den verdienten Bundestrainer aus. „Hannawald ist die Riesenenttäuschung meiner Karriere schlechthin“, sagte Heß anschließend. Auch dem Fernsehsender RTL dürfte der Wechsel vom knorrigen, eigenwilligen Heß zum kooperativen Lebemann Steiert nicht ungelegen gekommen sein. Doch dieser sollte bald darauf scheitern. Heß aber hat seinen erzwungenen Rücktritt nie verkraftet. „Den Mann mit der Fahne gibt es nicht mehr“, sagte er. Es war eine Prophezeiung.

Im Januar 2006 wurde bei ihm Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert. Seit mehr als zwei Jahren soll der Tumor zu diesem Zeitpunkt bereits gewachsen sein. Heß brachte in einem Interview mit der „Super-Illu“ seine Krankheit mit dem beruflichen Tiefpunkt in Verbindung: „Der Volksmund sagt: Bauchspeichelkrebs ist Kummerkrebs“, erklärte er, „im Frühjahr 2003 gab es eine berufliche Zeit, die nicht spurlos an mir vorübergegangen ist.“

In den letzten eineinhalb Jahren kämpfte Reinhard Heß tapfer gegen seine Krankheit. Nur selten kam er noch zum Skispringen. „Es gibt Kontakte zum Nachwuchsbereich, aber kaum noch welche zum Spitzensport“, sagte er, „es melden sich nur wenige bei mir, darüber bin ich enttäuscht. Man ist schnell vergessen.“ Nach seinem letzten Urlaub im November auf Teneriffa setzte er die Chemotherapie ab. Am Heiligabend ist Reinhard Heß in einer Klinik in Bad Berka im Alter von 62 Jahren gestorben.

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