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Ludger Beerbaum

© dpa

Reiten: Ein Problem und viele Superlative

Das CHIO in Aachen verliert den Volksfestcharakter - trotz eines Zuschauerrekords.

In Aachen hat es wieder geregnet. Man ist mittlerweile daran gewöhnt. Die Springreiter, die die ersten beiden Prüfungen hinter sich brachten, trugen es mit Fassung, das Publikum mit bewundernswerter Langmut. Der Regen gehört in Aachen fest zur Folklore. Getrübt wurde der Auftagt einzig dadurch, dass die Schweizerin Christina Liebherr nach einem Sturz mit der neunjährigen Stute Callas ins Krankenhaus gebracht werden musste. Die Diagnos lautete: Gehirnerschütterung.

Dennoch: Der Concours Hippique International Officiel, der CHIO, ist für viele das beste, tollste und vor allem das größte Reitturnier des Planeten – mit großem Abstand. Als am Sonntag die inoffizielle Eröffnung war, kamen 36 000 Menschen zum Turniergelände in der Soers. Dabei war nichts geboten als ein Gottesdienst, ein kurzes Programm und ein paar geöffnete Geschäfte in der Ladenstraße. Wenn diese Woche vorbei ist, werden es in Aachen mehr als 300 000 gewesen sein, eher 350 000. Der alte Zuschauerrekord von 2005 steht bei 335 000.

Trotzdem sagt Michael Mronz, 40, Geschäftsführer der Aachener Reitturniergesellschaft (ART): „Es geht uns nicht darum, immer größer zu werden und immer neue Zuschauerrekorde aufzustellen; in erster Linie wollen wir immer besser werden.“ Damit dies langfristig gelingt, sind in diesem Jahr neben den traditionellen Disziplinen Springen, Dressur und Gespannfahren auch Voltigieren und Vielseitigkeit, die früher mal Military hieß, Bestandteil des Programms. Auch deswegen, weil beide Wettbewerbe sich bei der Reit-WM vergangenes Jahr in Aachen bemerkenswerter Beliebtheit erfreuten. Insgesamt werden 253 Reiter aus 23 Nationen mit 441 Pferden an den Start gehen und sich um 1,55 Millionen Euro Preisgeld streiten, so viel gab es in der Geschichte des Turniers noch nie. Das Preisgeld ist tatsächlich nicht der einzige Grund, nach Aachen zu kommen, viele Reiter setzen einen Sieg im Großen Preis, gleich ob im Springen, Fahren oder der Dressur, einem WM- oder Olympiasieg gleich, zumindest annähernd.

Die wichtigste Veranstaltung ist neben den Großen Preisen in Springen und Dressur am Sonntag der Nationenpreis der Springreiter, der dieses Jahr erstmals donnerstags statt freitags stattfindet, der zweite Umlauf sogar abends unter Flutlicht. WDR und ARD senden live und werden Bilder in 134 Länder senden. Auch das ist ein Rekord im Pferdesport.

Bei allen Superlativen, bei allem ökonomischen Fortschritt der vergangenen zehn Jahre gibt es sowohl unter den Zuschauern als auch unter den Reitern kritische Stimmen, die eine Art Überkommerzialisierung in Aachen bereits festgestellt haben oder wenigstens voraussagen. Vom Volksfestcharakter ist nicht mehr so sehr viel übrig. Spätestens seit 2006 die überaus beliebte Stehwiese, auf der besonders Familien für wenig Geld die Springen beim Picknick verfolgen konnten, einer neuen Tribüne für Presse und Sponsoren geopfert wurde, ist der bis dahin leise Unmut doch ein bisschen lauter geworden. Und es wird vermutlich nicht mehr lange dauern, bis das Vip-Zelt am Abreiteplatz das größte Gebäude auf dem Gelände ist. Das Publikum wandelt sich, wie im Fußball auch, unter die Reitsportbegeisterten mischen sich immer mehr Event-Fans, denen es eher um den Kult und das Ereignis geht als um den Sport selbst. „Klar, in Aachen hat sich manches verbessert“, sagt etwa Springreiter Marcus Ehning, Sieger des Großen Preis von Aachen 2006, „aber auch manches verschlechtert.“

Marlon Gego[Aachen]

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