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Ronny Ziesmer

© Eckhard Herholz/Gymmedia

Reportage: Ziesmers Glück

Was bedeuten Olympische Spiele einem Sportler, der bei der Vorbereitung seine Gesundheit verloren hat und nun im Rollstuhl sitzt? Der einstige Turner Ronny Ziesmer jedenfalls ist in Peking dabei – als Fernseh-Kommentator. Er sagt, dass sich nun ein Traum erfüllt.

Von seinem Platz in Reihe 113 hat Ronny Ziesmer eine gute Sicht auf sein früheres Leben. Er sieht das ganze Panorama, das ihn damals beinahe jeden Tag beschäftigt hat, die sechs Geräte des Turnens: das Seitpferd, die Ringe, der Boden, der Sprungtisch, der Barren und ganz rechts das Reck. An diesem Dienstag bereitet sich dort gerade Fabian Hambüchen auf seine Übung vor, sein Vater hebt ihn hoch, er greift nach der Stange und spannt die Muskeln an.

Es ist das Mannschaftsfinale der Turner, ins National Indoor Stadium von Peking sind 18 000 Menschen gekommen, fast so viele wie an einem Samstag in ein Stadion der Fußball-Bundesliga. China liegt in Führung, auch deshalb jubeln die Zuschauer ständig so laut wie bei einem entscheidenden Tor. Die Begeisterung bekommt Ziesmer etwas gedämpft mit, er hat einen Kopfhörer aufgesetzt und spricht in ein Mikrofon, während Hambüchen sich nun nach oben schwingt. Hambüchen will die deutsche Mannschaft noch einmal nach vorne bringen, am Reck könnte er besonders viele Punkte holen, in der Disziplin ist er Weltmeister.

Der kleine Fehler

In seinem früheren Leben hat Ziesmer mit ihm noch zusammen geturnt, sie waren ein Team, Ziesmer kennt jede Bewegung der Übung, die meisten davon hatte er früher selbst einstudiert. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er heute, in seinem neuen Leben, diese Bewegungen besser beschreiben kann als andere. Ziesmer kommentiert als Ko-Kommentator die olympischen Turnwettbewerbe für das ZDF – von einem Rollstuhl aus.

Und dann verliert Hambüchen plötzlich die Kontrolle. Seine Hand rutscht ab, die Finger greifen nur Luft statt das Metall der Reckstange. Sein eben noch angespannter Körper sackt zusammen, die Beine knicken ein, er landet auf den Füßen. Es ist ein Moment der Ungewissheit für die deutsche Mannschaft.

Hambüchen geht ruhig zum Behälter mit Magnesia, reibt sich seine Hände noch einmal ein und turnt die Übung zu Ende. „Kann passieren, bin ja auch nur ein Mensch“, sagt Hambüchen später. Ohne diesen Fehler wäre die deutsche Mannschaft ebenfalls Vierte geworden, er hat nur wenige Zähler gekostet, eine kleine Unachtsamkeit ohne große Folgen. Für den Kommentator Ziesmer aber könnte es eine Art Test gewesen sein, wie stark ihn Patzer beim Turnen heute noch berühren. Auch Ronny Ziesmer hat beim Turnen einmal einen kleinen Fehler gemacht – der ihn in den Rollstuhl brachte.

Am Anfang eines Aufschwungs

Vor vier Jahren hatte er es schon fast zu den Olympischen Spielen geschafft, Ziesmer war Deutscher Meister im Mehrkampf, der Vielseitigste unter den Besten. Die deutschen Turner befanden sich am Anfang eines Aufschwungs, und um alles rauszuholen, trainierten sie im Bundesleistungszentrum Kienbaum, im Osten von Berlin. Für die Olympiaform fehlte nur die letzte Feinabstimmung. Es war der 12. Juli 2004. Ziesmer wollte den zweieinhalbfachen Salto rückwärts üben. Er rannte auf den Sprungtisch zu, flog durch die Luft, und irgendetwas machte er anders als sonst. Was, das weiß er nicht mehr genau, aber er landete nicht auf den Füßen, sondern knallte mit dem Kopf auf die Matte. Seine Halswirbelsäule brach, und als ihn die Ärzte im Unfallkrankenhaus Berlin untersucht hatten, sagten sie ihm, dass er von nun an querschnittsgelähmt sei.

So erlebt Ziesmer seine ersten Olympischen Spiele jetzt im Rollstuhl, als Ko-Kommentator erklärt er von der Tribüne aus, wie kompliziert das Turnen manchmal sein kann, was ein Athlet fühlt und macht im Wettkampf. 29 Jahre alt, die Haare etwas hochfrisiert, legt er seine rechte Hand mal auf den Tisch, mal um die Schulter seiner Freundin, die mit nach Peking gekommen ist. Zwischendurch drückt er sich mit beiden Armen aus seinem Stuhl hoch, um etwas bequemer zu sitzen. Die Olympischen Spiele sind das Größte, was ein Sportler erleben kann, vier Jahre Vorfreude, aber auch vier Jahre hartes Training und Disziplin, kaum Partys, vielleicht sogar keine Berufsausbildung. Doch was bedeuten sie einem, der bei der Vorbereitung darauf seine Gesundheit verloren hat? Kann man den olympischen Traum einfach so nachholen? Ronny Ziesmer hat sich jedenfalls wieder vorbereitet auf die Spiele. Berlin, das Velodrom in Prenzlauer Berg, Ende Mai. Erster Qualifikationswettkampf der deutschen Turner. An diesem Tag werden einige schon ausscheiden, ihr Traum wird schnell enden. Ziesmer lenkt seinen Rollstuhl vor dem Wettkampf um die Matten herum. Während die Turner anstehen, um noch mal ihre Übungen auszuprobieren, plaudert er mit ihnen. Nach dem Wettkampf wird er sagen: „Gut, dass sich keiner verletzt hat.“

Er sagt es nicht wie jemand, dem sein Unfall eine schwere Sorge eingepflanzt hat, die er nun das ganze Leben mit sich herumträgt. Er sagt es wie ein Kollege, und meint die kleinen Verletzungen, wenn sich eine Sehne meldet oder eine Muskelfaser reißt. Unannehmlichkeiten, die das Training einschränken, aber nicht gleich das Leben.

Olympic Lane

Seit einigen Wochen steht fest, dass Ziesmer zum Team des ZDF gehören wird, das die Turnwettbewerbe aus Peking überträgt. Turnen zählt zu den Hauptattraktionen aus deutscher Sicht, spätestens seit Fabian Hambüchen im vergangenen Jahr in Stuttgart den WM-Titel am Reck geholt hat und die gesamte Mannschaft eine Bronzemedaille. Ziesmer will die Turner in Berlin noch einmal beobachten, sie nach ihren Vorbereitungen fragen. Von Olympiateilnehmer zu Olympiateilnehmer. Nur dass seine Vorbereitungen etwas anders laufen.

Als Ko-Kommentator war er schon bei der Weltmeisterschaft 2007, aber nicht in einem Land, das er nur durch einen langen Flug erreicht, dessen Menschen zwar als aufgeschlossen gegenüber Behinderten gelten, nicht aber dessen Verkehrsmittel. Er brauche ein eigenes Auto, sagt er, einen Fahrer, eine besondere Erlaubnis für die Olympic Lane, auf der während der Spiele die Autos am Stau vorbeifahren können.

Ziesmer muss mit mehr Einschränkungen zurechtkommen, als nur im Rollstuhl befördert zu werden, dazu war seine Verletzung zu schwer. „Das ist wie bei einem gekochten Spargel, den Sie mit einem stumpfen Messer plattdrücken“, erklärt sein Arzt Andreas Niedeggen am Unfallkrankenhaus Berlin, „da sind die ganzen Fasern noch vorhanden, aber nicht mehr funktionsfähig.“ Nur einige Restfunktionen hat der Unfall Ziesmer gelassen, er kann seinen Unterarm strecken und sein Handgelenk, nicht mehr jedoch seine Finger. Wenn Ziesmer ein Telefongespräch führen will, drückt er seine Knöchel auf die Tasten, eine Gabel fixiert er erst in der Hand, bevor er mit ihr zu essen beginnt. „Es ist wie ein Leben in Boxhandschuhen“, sagt er.

Der Bogen um das große Loch

In Berlin haben sich nun einige Turner schon so gut wie sicher qualifiziert, Ziesmer wird sie nach Peking begleiten, aber in welcher Rolle eigentlich? „Man ist nicht der Begeisternde, aber auch nicht der, der begeistert ist“, sagt er. Welchen Platz er einnimmt, wisse er noch nicht, aber eine Erwartung habe er schon. Olympia solle ihm zeigen, „was auf einen einstürzen kann als ehemaliger Turner“, welche Emotionen ihn überkommen können.

Auf jeden Querschnittsgelähmten wartet nach dem Unglück angeblich irgendwann ein Loch, bei manchen ist es tiefer, bei anderen weniger. Ziesmers Loch drohte deshalb besonders tief zu werden, weil er seinen Körper zuvor besonders beherrschen konnte, mit Krafttraining hatte er ihn geformt und mit viel Übung dazu gebracht, sich mehrfach in der Luft zu drehen oder sich sekundenlang in schwierigsten Positionen zu halten. Falls ihm das Loch schon aufgelauert hat, scheint Ziesmer einen großen Bogen um es herum gemacht zu haben.

So erzählt es etwa sein ehemaliger Trainer. Andreas Hirsch ist für die Nationalmannschaft der Männer zuständig, ein Mann mit einer randlosen Brille und einer leichten, kleinen Figur, ideal für die Flugteile beim Turnen. „Als Ronny da lag auf der Matte, muss irgendetwas mit ihm passiert sein“, sagt Hirsch, „er muss sich gedacht haben: Jetzt fängt ein neues Leben an, zurückschauen bringt nichts.“ Ziesmer hätte es sogar ihm, Hirsch, leichter gemacht, mit dem Unfall zurechtzukommen, „er hat uns vor Olympia in Athen den Rücken gestärkt und gesagt: Ihr müsst fahren.“

Der letzte Sprung

Es ist dennoch etwas zurückgeblieben. Ziesmers letzter Sprung, der zweieinhalbfache Salto rückwärts, wird seit seinem Unfall in Deutschland nicht mehr geturnt. „Ich kenne keinen Trainer, der diesen Sprung noch ausbildet“, sagt Hirsch, „vielleicht wird das in der nächsten Generation von Trainern anders sein.“

Und Ziesmer selbst? Ist er dem Sport böse?

„Böse?“, sagt er. „Ich mache dem Turnen keinen Vorwurf“, sagt Ziesmer, „Fehler passieren, dass sie so ausgehen, ist weniger schön. Aber ich wäre heute ohne das Turnen nicht da, wo ich bin.“ Zum Beispiel könne er auch in seinem neuen Leben täglich zwei Dinge anwenden, die ihm das Turnen beigebracht habe: Kämpfen und Ausblenden. Zu kämpfen hat Ziesmer offenbar schon im Krankenhaus begonnen. „Er sieht die Therapieeinheiten als Training, deshalb kann er sich auch gut quälen“, sagt Niedeggen, sein Arzt, „uns gegenüber hat er seine Behinderung überraschend früh angenommen, vielleicht nach vier Wochen.“

Vielleicht auch, weil er Arbeit wie in einer Reha schon kannte. Nach seinem Unfall machte er einfach damit weiter, seinem Körper ständig Aufträge zu erteilen. Er trainierte, sich schneller anzuziehen, dann sicherer nach Dingen zu greifen. Immer mit kleinen Erfolgen.

Die Ziele sind allerdings endlich. So wie Ziesmer im Turnen nicht viel mehr hätte erreichen können als olympisches Gold, so wird er mit seinen Fingern auch später nur wenige Dinge tun können: Autofahren etwa, das wird nach einer Weile wieder funktionieren, seine Finger aber wird er nie mehr einzeln bewegen können.

Rufe aus der Vergangenheit

Und dann ist da noch die Sache mit dem Ausblenden. Früher hat Ziesmer die Rufe der Zuschauer ausgeblendet, die Gedanken an ein Scheitern, sonst hätte er all die Übungen gar nicht ausführen können. Und jetzt sind es die Rufe aus der Vergangenheit, die er ausblendet, dass das Leben schöner gewesen sein könnte zum Beispiel. Oder dass er damals doch auch auf den Beinen hätte landen können – so wie Fabian Hambüchen.

An diesem Dienstag funktioniert es, dass er sich auf seine Rolle als Kommentator zurückzieht. „Verdammt, habe ich gedacht“, wird Ziesmer nach seiner Moderation des Patzers nüchtern anmerken, „Fabian ist doch eine Bank an diesem Gerät.“ Das Turnen hilft ihm, ebenso seine rationale Art, die Welt zu sehen. Ziesmer studiert Biotechnologie, er glaubt an den wissenschaftlichen Fortschritt und dass der ihm auch selbst irgendwann einmal helfen könnte. Eine Stiftung hat er auch gegründet, die Forschung für Querschnittsgelähmte fördern soll, Angela Merkel hat die Schirmherrschaft übernommen. „Die Stiftung könnte einmal zur Lebensaufgabe werden“, sagt Ziesmer. Ein neues Ziel. „Nur weil man im Rollstuhl sitzt, heißt das nicht, dass man seine Träume nicht leben kann.“

Ausblenden, weitermachen

Olympia habe er schließlich auch erreicht. „Ich sehe das aber nicht als Trostpflaster oder so“, sagt Ziesmer. Ein Sponsor hat ihm ein Auto in Peking zur Verfügung gestellt, ein befreundeter Journalist fährt ihn zur Sporthalle und zurück ins Hotel. Auf der Fahrt sind sie auch am Olympiastadion vorbeigekommen, und als Ziesmer die Flamme auf dem Dach brennen sah, überlegte er dann doch, wie es gewesen wäre, wenn er als Teilnehmer hierher gekommen wäre. Nach einer Weile sagte er nur: „Es wäre schon toll gewesen. Aber ich kann es nicht ändern.“ Und begann mit der Arbeit.

Als Fabian Hambüchen dann ins Leere fasste, hat sich Ziesmer nur seinen Teil gedacht: „Beim Kommentieren habe ich mich zurückgehalten, da habe ich lieber nichts gesagt.“ Es ist gut möglich, dass in diesem Moment beide einen Gedanken geteilt haben: ausblenden, weitermachen, das hilft immer.

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