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Rudern: Der sensible Macho

Ruderer Marcel Hacker inszeniert sich gerne als Großmaul – die Rolle dient ihm auch als Selbstschutz.

Der Kopf von Marcel Hacker berührt fast das Fenster, durch das jetzt Sonnenlicht ins Zimmer fällt. Ein paar Stellen seiner Glatze schimmern in leichtem Glanz. Es ist keine echte Glatze, aber die Haare sind fast an der Wurzel abgeschnitten. Man blickt unwillkürlich auf die raspelkurzen Haare, weil Hacker jetzt die Geschichte mit der Perücke erzählt. Einer dieser Marketingexperten hatte ihm mal geraten, die Haare wachsen zu lassen. Dann fiele die Sponsorensuche leichter. Diese Fastglatze, das wirke einfach nicht richtig, zu brutal, zu wenig sympathisch. „Blödsinn“, antwortete Hacker, „dann trage ich halt Perücke.“ Blödsinn, dachte der andere. Das Thema war durch. Die Bahn bleibt Hackers einziger großer Sponsor. „Warum soll ich mich ändern?“, sagt Hacker jetzt, „ändern tut weh.“

Hacker macht eine Kunstpause, weil er sich gerne zuhört bei den typischen Hacker-Sätzen. Diese Sätze bedienen immer nur ein Bild: Hacker, der Rebell, der einsame Kämpfer, den Widerstände nur noch stärker machen. Der Rebell sitzt natürlich nicht einfach auf seinem Ledersessel im Trainerzimmer des Ruder-Leistungszentrums Oberschleißheim bei München, er hat die bewegliche Lehne weit nach hinten gedrückt und die Oberarme hinterm Kopf verschränkt. Die mächtigen Muskeln wölben sich, das gehört zum Effekt.

Der Einer-Ruderer Hacker, Weltmeister 2002, zweimaliger Vizeweltmeister, imponiert immer auch mit seiner körperlichen Kraft, das gehört zu den Spielchen seines Sports. So oft es geht, posiert er bei Regatten mit freiem Oberkörper. „Die anderen sollen den Maschinenraum sehen“, sagt er. Den nationalen Konkurrenten imponiert das sogar.

Die internationalen natürlich nicht. Die kennen Hacker als labilen Athleten, der immer wieder die wirklich wichtigen Rennen verpatzt. Bei der WM 2001 brach er nach 1500 Metern ein, bei Olympia 2004 blieb er im Halbfinale hängen, bei der WM 2007 in München gab er alles, damit er im Finale nicht auch noch Letzter wurde. Zuletzt ruderte der 31-Jährige beim Weltcup am Rotsee im Juni nach 300 Metern ans Ufer. „Ich war total leergefahren“, sagte er später.

Am Rotsee war ein Magen-Darm-Infekt schuld, das haben die Ärzte festgestellt. Aber er hatte zu viele Niederlagen in seiner Karriere, es konnte nicht immer bloß eine Krankheit schuld sein. So war’s ja auch nicht. Die Rolle des Rebellen ist sicher nicht bloß gespielt, aber sie verbirgt einen Mann, der viel sensibler reagiert, als das wahrgenommen wird.

Er möchte natürlich als großspuriger Einzelkämpfer wahrgenommen werden. „Ich spiele die Rolle gern“, sagt er irgendwann. Er hat jetzt zwei Stunden über sich erzählt, und mit jeder Minute vergisst er mehr, sich zu inszenieren. Die Arme liegen auf dem Schreibtisch, der Ton ist nicht mehr betont hart. „Aber 80 Prozent meiner Sätze sind auch Selbstschutz“, sagt er. „Sonst bist du ein Spielball.“ Ein Spielball der Medien, meint er vor allem. Aber selbst gegenüber „Sportkollegen sage ich nur 50 Prozent ungefiltert“. Ungefiltert, sagt er, erleben ihn nur sein Trainer, seine Freundin, seine Mutter und ein befreundetes Ehepaar.

Hacker mag als Großmaul auftreten, aber er orientiert sich gleichwohl an Regeln. Der Kern dieser Regeln sind Respekt und Anstand. Peter-Michael Kolbe aus Hamburg war mal ein Großer im Einer, fünfmaliger Weltmeister, verschroben wie Hacker. Wenn Hacker ihm begegnete, dann würde er nicht lässig, sondern respektvoll „Herr Kolbe“ sagen. Nicht bloß wegen des Altersunterschieds, „sondern aus Achtung vor der Leistung“ des anderen. Der junge Hacker hatte Leute wie den Weltmeister André Willms als Teamkollegen. „Wenn du zu denen im Spaß ,Weichei’ gesagt hast, dann hast du eine gescheuert bekommen, so schnell konntest du gar nicht schauen.“ Echte Kerle in Hackers Definition. „Die sagten offen ,Arschloch’ zu dir“, keiner lästerte hintenherum. „Coole Zeiten waren das“, sagt Hacker.

Wenn er heute über den Sattelplatz läuft, dann ist er schon froh, wenn ein Jüngerer „Hallo“ sagt. Aber wenn ihm einer den Spruch reindrückt: „Ey Hacker, komm mal her“, da könnte er ausrasten. „Das heißt Marcel oder Herr Hacker.“

Der poltrige Herr Hacker hat aber zugleich vier Jahre gebraucht, bis er ohne seelische Qualen Fotos seiner schlimmsten Momente betrachten konnte. Bei der WM 2001 erlitt er nach groben taktischen Fehlern im Ziel einen Kollaps, fiel ins Wasser und musste gerettet werden. Sein verpatztes Rennen bei der WM 2007 hatte er nie angeschaut, bis sie es bei einer Vereinsfeier plötzlich einblendeten. „Ohne Vorwarnung“, sagt Hacker. „Das war wie ein Schlag ins Gesicht.“ Die Halbfinalpleite bei Olympia 2004 drückte sein „Selbstwertgefühl sogar auf null. Du bist der Loser der Nation.“ Und „du merkst, wer deine Freunde sind“. Nach Athen strich er die Hälfte der Namen in seinem Telefonbuch.

In harten Stunden geht er dann nicht zu seiner Staffelei, er flieht regelrecht zu ihr. Malen ist dann Therapie. Hacker kann wunderschön malen. An manchen Abenden, sagt er, bringt er es auf zwei Bilder. Seiner früheren Schulrektorin in Magdeburg hat er mal zwei geschenkt. Sie hatte „ihn durch die Schule gebracht“, sie ist zur „Freundin geworden“. Sie bat um ein Bild für die Schule, er gab ihr zwei.

Neben seinen Bildern hängen bei ihm zu Hause auch seine Fotos. Es sind Motive mit sehr viel Sinn für Details, für Licht und Konturen. Das allein verwundert nicht, Hacker, der Industriemechaniker, hat auch eine Ausbildung zum Fotografen hinter sich. Man wundert sich, dass dieser vermeintlich grobschlächtige Typ solch ein Gespür für Feinheiten hat. Aber man wundert sich nur, so lange man das öffentliche Bild von Hacker vor Augen hat, das der sorgfältig bedient.

Doch die Risse werden größer in diesem Bild, und jeder kann sie sehen. Hacker hat nach der Rotsee-Pleite all seine Starts abgesagt, er überlegt sich sogar, einen Psychologen einzuschalten. In Bestform ist er einer der Favoriten in Peking, aber so ein Rennen gewinnt man nur im Kopf. Und Olympische Spiele sind unvergleichlich, und damit ist auch der Druck enorm. Hacker weiß bis heute nicht, was damals war, 2004 in Athen, als er versagte. Irgendwann klammerte er sich in seiner Hilflosigkeit an den Satz: „Es gibt Dinge, die sind einfach vorherbestimmt.“

Mit so einem Gedanken kann er natürlich nicht zu Olympia fahren. Olympia lebt davon, dass einer über sich hinaus- wächst. Doch bei ihm taucht eben auch immer dieses Gefühl vom unerwarteten Scheitern auf. Vor der WM 2003 hatte er 41 Rennen in Folge gewonnen, im WM-Finale schob sich der Norweger Olaf Tufte als Erster durchs Ziel. Hacker blieb Silber. Wenn er sich nicht hinter seiner Macho-Rolle versteckt, dann gibt er zu, wie ihn diese Erinnerungen einholen.

In solchen Momenten bekommt dann sein Talismann wieder besondere Bedeutung. Er liegt in seinem Van mit dem riesigen Schriftzug „Marcel Hacker“ am Armaturenbrett. Ein knuffiger Teddybär, der zwei Ruderblätter aus Metall hält. Ein Fan aus Frankfurt hatte ihm bei der WM in München den Teddy überreicht. Hacker steht vor seinem Auto, und spätestens jetzt hat der Macho Hacker endgültig die Rolle gewechselt. Der Mensch Hacker zeigt auf den Teddy und sagt: „Das hat mich wirklich sehr gefreut.“ Und seine Stimme klingt fast warm.

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