zum Hauptinhalt
arschawin

© dpa

Russland: Der Kasper macht Spaß

Russlands Star Andrej Arschawin mimt gerne den unangepassten und verwöhnten Bengel. Große Klubs aus dem Ausland wollten ihn nicht. Nach seinen Leistungen bei der EM kann sich das ändern.

Zu wenig Selbstbewusstsein bringt der kleine Mann nicht mit. Als er einem russischen Reporter im Dubai-Urlaub ein Interview gab, erschien Andrej Arschawin in T-Shirt und Shorts des FC Barcelona. Es ist sein Lieblingsverein. Auf die Frage, ob denn sein Arbeitgeber Zenit St. Petersburg nichts dagegen habe, antwortete der Spieler: „Das ist mir egal.“

Willkommen in der Welt von Andrej Arschawin, dem Individualisten des russischen Fußballs, an dem sich neuerdings ganz Europa wärmt. Russlands 1,72 Meter große „Zehner“ vollbringt unmögliche Dinge – auf dem Fußballplatz und außerhalb. Er lässt Verteidiger ins Leere laufen, so wie er es sein Leben lang mit Lehrern, Trainern und Journalisten gemacht hat. Im Bewusstsein, dass ihm am Ende sowieso alles verziehen wird, weil er kann, was nur wenige können: Arschawin kann ein Spiel im Alleingang entscheiden. Er lebt von der Intuition, der Improvisation, vom Risiko, nicht vom Kalkül. Er ist vermutlich der russischste aller russischen Nationalspieler. „Ein Naturtalent“, sagt sein Trainer Guus Hiddink. So spielt, wer sich weigert, fußballerisch gänzlich erwachsen zu werden, wer sich den Straßenfußballer der Kindheit in St. Petersburg, das damals noch Leningrad hieß, nicht abgewöhnen will. Und wer Gefahr läuft, als ewiges Talent zu enden.

In der EM-Qualifikation bestritt der 27 Jahre alte Arschawin alle zwölf Spiele, erzielte drei Tore und bereitete vier vor, in der russischen Premier-Liga lieferte Russlands Fußballer des Jahres 2006 zuletzt eine durchwachsene Saison ab. Seine Leistungen in der Nationalmannschaft und im Verein bestätigten seine Kritiker: Arschawin, sagen die, sei bei all seinen Qualitäten ein unsicherer Kantonist, der schon einmal wochen- und monatelang neben sich stehen kann, wenn ihm etwas im Umfeld nicht schmeckt. 2002 und 2004 wurde er nicht für den WM- und den EM-Kader berücksichtigt. Im Frühjahr 2007 geriet Arschawin mit Zenits Trainer Dick Advocaat aneinander. Er weigerte sich nicht nur, hinter den Spitzen zu spielen anstatt im Sturm, sondern überzog auch mit zwei Mannschaftskollegen vor einem wichtigen Spiel den Zapfenstreich. Die Folge: Nach nur zwei Monaten musste er die Kapitänsbinde wieder abgeben und wurde in die Reserve verbannt. Nur eine Woche später aber wurde er begnadigt und war fortan vor allem damit beschäftigt, der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass es ohne ihn ja doch nicht geht. Als vor drei Jahren sein Kumpel Wladimir Bystrow von Zenit zu Spartak Moskau gewechselt war, stellte Arschawin demonstrativ den Torjubel ein und legt bis heute den Finger auf die Lippen, als habe auch das Publikum keinen Grund zum Feiern. Sogar Hiddink, einer seiner größten Fürsprecher, setzte ihn in der Auswahl als Kapitän ab, weil sich der Profi beim mühseligen 1:0 im letzten EM-Qualifikationsspiel gegen Andorra eine Rote Karte wegen einer Tätlichkeit eingehandelt hatte.

Arschawin verdient bei Zenit 2,5 Millionen Euro im Jahr und damit sogar mehr als Hiddink. Sein Marktwert wird auf 16 Millionen Euro geschätzt, seit er in den EM-Spielen gegen Schweden und Holland zum besten Spieler gewählt wurde. Aber von einem schillernden Star ist er weit entfernt, an einer Führungs- und Vorbildrolle scheint ihm nichts zu liegen. In Russlands Nationalmannschaft ist Arschawin nicht das Herz und nicht das Hirn, schon gar nicht das Rückgrat, sondern das Lustorgan. Obwohl er zweifacher Vater ist, macht er oft den Eindruck eines verwöhnten Bengels, der immer wieder Grenzen austesten möchte. „Schawa“, das Schlitzohr, der Ungezogene, der Aufsässige, der Kasper, den die frühe Trennung seiner Eltern hart getroffen hat, der ein paar Mal die Schule wechseln musste und der dank des Fußballs immer wieder auf die Füße gefallen ist. Der den Unangepassten gibt und sich im Vorjahr von der Kreml-Partei „Jedinaja Rossija“ für die Kommunalwahlen nominieren ließ. Der sich öffentlich mit Gasprom anlegte, als es um seine Vertragsverlängerung ging, und dem Nachrichtenmagazin „Russkij Newsweek“ sagte, dass russische Trainer mit ihren „Armeegebahren“ bei Zenit nichts verloren hätten. Der sagte, er bleibe „bis ans Lebensende“ in St. Petersburg, wenn es in diesem Jahr wieder nichts mit einem Wechsel ins Ausland würde.

Gut möglich, dass es Arschawins Charakter ist, der ausländische Klubs bisher hat zögern lassen. In den acht Jahren, die er nun schon für Zenit durch die Abwehrreihen der Premier-Liga wirbelt, sind andere für viel Geld aus Russland zu Top-Vereinen gewechselt, darunter sein Teamkollege Martin Skrtel zum FC Liverpool und Nemanja Vidic zu Manchester United. Und jetzt auch Arschawin? Mit seinem Verhalten hat er regelrecht darum gebettelt, dass ihm ein Trainer zeigt, wie gut er wirklich sein kann. Und so gut wie unter Hiddink, der ihn als freischaffenden Künstler schalten und walten lässt, ihm aber auch Selbstdisziplin abfordert, war er noch nie. Nun geht es für Russland gegen Spanien. Vielleicht ist der FC Barcelona ja doch nur noch ein Spiel entfernt.

Tino Künzel[Moskau]

Zur Startseite