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Sport: Sag mir, wo die Blumen sind

Bei der Eiskunstlauf-WM werden die Deutschen im Schatten der großen Stars bleiben

Berlin. Der Klassenkampf war in diesen Minuten etwas seltsam. Die Feindbilder waren nicht klar strukturiert. Auf der Holzbank in der kleinen Garderobe schnallten sich Annett Pötzsch aus Karl-Marx-Stadt und Dagmar Lurz aus Dortmund die Schlittschuhe an. Sie schwiegen. Keine redete mit der anderen. Pötzsch traute sich nicht. Sie startete für die DDR, Lurz stand für den Kapitalismus, den Klassenfeind. Mit Lurz durfte sie nicht reden. Denn neben ihr stand Jutta Müller, ihre strenge Trainerin mit den harten Mundzügen. So weit alles linientreu. Aber Müller redete. Mit dem Klassenfeind sogar. Der Klassenfeind hatte Erich Zeller in die Garderobe geschickt, den Trainer von Lurz. Es war ein Zufall, sowohl Müller als auch Zeller hatten bei der Eiskunstlauf-WM in Dortmund nur einen ruhigen Raum zum Umziehen vor der Kür gesucht. Sie fanden den gleichen Raum.

Dann die Kür. Pötzsch kämpfte sich zu Gold, Lurz stand ihre Angst-Sprünge Doppel-Axel und Dreifach-Rittberger, die Leute jubelten. Blumen bedeckten nach der Kür das Eis. So viele, dass Dagmar Lurz nicht alle tragen konnte. Und dann weinte sie. Sie hatte Silber gewonnen. Vize-Weltmeisterin.

So war das 1980.

24 Jahre später finden wieder Eiskunstlauf-Weltmeisterschaften statt in Dortmund. Die DDR gibt es nicht mehr, diesmal startet Annette Dytrt bei den Frauen für Deutschland. Eine 20-Jährige, die bei der Europameisterschaft 2004 Elfte wurde und 2003 wegen Erfolglosigkeit nicht bei der WM antreten durfte. Dytrt wird bestimmt nicht Vize-Weltmeisterin. Es wird überhaupt keine Medaille geben bei der WM für Deutschland. Dazu sind die deutschen Eiskunstläufer zu schlecht. Die Eistänzer René Lohse und Kati Winkler haben noch die besten Chancen auf einen vorderen Platz. „Ein Rang unter den ersten fünf“, hofft Reinhard Mirmseker, der Präsident der Deutschen Eislauf-Union (DEU) für die beiden. Aber sonst? Stefan Lindemann bei den Herren? „Ich hoffe, dass er in Richtung eines Platzes der Top Ten läuft“, sagt Mirmseker. Und das Eiskunstlauf-Paar Eva-Maria Fitze/Rico Rex? „Ich wünsche mir, dass sie ihre Leistung bringen. Bei der WM geht es nicht um Platzierungen, sondern darum, dass unsere Sportler zeigen, was sie können“, verkündet Mirmseker. Das deutsche Eiskunstlaufen am Neuanfang.

Aber Dortmund ist eine Chance. Weltklasse-Eiskunstlaufen zum Anfassen. Die Sportart kann sich präsentieren, das hilft auch der DEU. Die ARD überträgt ausführlich, der Kartenvorverkauf verlief ausgezeichnet, und auf dem Eis stehen Stars mit Charisma. Jewgeni Pluschenko zum Beispiel. Der Russe mit der blonden Mähne will seinen dritten WM-Titel. Er ist in Topform ein exzellenter Läufer. Aber er plagte sich monatelang mit einer Meniskusverletzung. Unklar, ob er sie auskuriert hat. Wenn nicht, droht ihn Brian Joubert, der Franzose, als Weltmeister abzulösen. Joubert verzauberte bei der Europameisterschaft regelrecht die Zuschauer mit seiner Sprungsicherheit. Aber Pluschenko wird auch noch von Emanuel Sandhu bedroht, dem Kanadier, der mal an der weltberühmten Ballettschule von Toronto geübt hatte und dann fürs Eiskunstlaufen entdeckt wurde. Er hatte Pluschenko beim Grand-Prix-Finale besiegt.

Im Paarlauf sorgen die Chinesen Xue Shen/Hongbo Zhao für die Ästhetik. Sie haben 2003 mit einer, wie Fachleute sagen, geradezu magischen Turandot-Kür den WM-Titel gewonnen. 2004 treten sie zur Musik von Tschaikowsky an. Und diese Kür soll ähnliches Niveau besitzen wie die von 2003. Die größten Konkurrenten der Chinesen sind die Europameister und WM-Zweiten Tatjana Totmianina/Maxim Marinin aus Russland sowie deren Landsleute, Maria Petrowa/Alexej Tichonow, die WM-Dritten von 2003.

Vor allem aber wird Michelle Kwan auftauchen, die Frau, die alle Profiangebote abgelehnt hat, die schon fünf Mal Weltmeisterin geworden ist und ansonsten die Rätselhafte spielt. Startet sie? Startet sie nicht? Das war bei der US-Amerikanerin lange unklar. Bei den US-Meisterschaften tauchte sie ohne große Vorbereitung völlig überraschend auf, erhielt für ihre Kür siebenmal die 6,0 und will in Dortmund ihren sechsten WM-Titel.

Katarina Witt ist natürlich auch in Dortmund. Der frühere Eislauf-Star der DDR kommentiert für die ARD. Sie kennt Dortmund sehr gut. 1980 war ihr erster WM-Auftritt. Sie war 13, sie wurde Zehnte, sie war unbekümmerter als ihre Teamkollegin Pötzsch. Die hat während der ganzen WM kein Wort mit Lurz geredet. Aber eigentlich fiel das nicht auf. Lurz und Pötzsch haben in den ganzen Jahren, in denen sie Konkurrentinnen waren, nie miteinander geredet.

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