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Sport: Schicksalsschläge

Jürgen Brähmer hat sich nicht nur im Ring geprügelt – nach fünf Jahren im Gefängnis boxt er wieder

Unter dem Kopfschutz fühlt er sich sicher. Die anderen Boxer im Gym lassen ihre Trainingsarbeit ruhen und schauen ihm zu. Jürgen Brähmer ist ein Naturtalent, und das weiß er auch. Gibt es einen Boxer, für den er nachts aufstehen und den Fernseher einschalten würde? Einen wie Muhammad Ali, für dessen Kämpfe sich früher die halbe Nation die Nächte um die Ohren schlug? Jürgen Brähmer überlegt einen Augenblick. „Nicht wirklich. Ich könnte jetzt sagen: Für Jürgen Brähmer würde es sich lohnen. Aber das käme wohl ein bisschen arrogant rüber und wäre auch nicht ernst gemeint.“

Der Mann ist vorsichtig in seiner Wortwahl. Schlechte Erfahrungen. Der Kopfschutz, der Boxer im Sparring vor Schlägen schützt, ist für ihn wie eine Tarnkappe. Seine Begabung ist zu sehen, nicht aber seine Vergangenheit. Im Ring ist der schlagende Jürgen Brähmer ein Ereignis. Im normalen Leben ist daraus beinahe eine Katastrophe geworden.

Jürgen Brähmer hat gerade die ersten Weihnachten in Freiheit seit Jahren verbracht. Fünf Jahre saß er insgesamt im Gefängnis, das ist viel für einen 27-Jährigen. Am Samstag wird er in Düsseldorf gegen den Südafrikaner André Thysse boxen. Es geht um den Intercontinental-Titel im Super-Mittelgewicht des Verbandes WBC. Ein lächerlicher Titel für einen wie Brähmer. Was für eine grandiose Zukunft hat man ihm vorausgesagt, als er vor zehn Jahren Weltmeister wurde bei den Junioren. In Havanna, vor 12 000 begeisterten Kubanern, deren Landsmann er geschlagen hatte. Viele haben in ihm nur das Boxtalent gesehen. Seine Pendelbewegungen, seinen Punch. Wenn sein Gegner wackelte, setzte er nach. Nicht nur im Ring.

Im Oktober 2002 hatte Brähmer einen Mann nach einem Autounfall k. o. geschlagen. Das Landgericht Rostock verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monate. Ein hartes Urteil? Nein. Brähmer war auf Bewährung in Freiheit, nach einer 42-monatigen Jugendstrafe wegen gemeinschaftlichen Raubes und Körperverletzung. Heute blickt Brähmer mit einiger Fassungslosigkeit auf den Mann zurück, der er einmal war. „Was war ich bloß für ein Vollidiot!“ Er trägt einen silbernen Ohrring und ein dünnes Bärtchen. Nach dem Sparring sind seine Augen wach, die seines Sparringspartners rot unterlaufen. Wenn er etwas kann, dann boxen.

Jürgen Brähmer wächst in Stralsund als eines von sieben Kindern auf. Als er elf Jahre alt ist, fällt die Mauer. Er verliert mehr, als er gewinnt. Zum Beispiel seine Trainerin im Sportverein. Sie hat den jungen Leichtathleten Jürgen Brähmer zum Bezirksmeister über 800 Meter gemacht, jetzt ist kein Geld mehr da für die Frau. „Sport war auf einmal nicht mehr so wichtig, eben nur Wischiwaschi.“ 1992 fängt er an zu boxen. Michael Timm, der Landestrainer, vermittelt ihm einen Platz auf dem Sportinternat in Schwerin. Die Schule bricht Brähmer später ab, aber das Boxen lässt ihn nicht mehr los.

Doch Brähmer lässt sich nicht auf die Rolle als Sportler reduzieren. Er zieht durch die Kneipen, trinkt. „Ich habe mich zwar nicht jede Woche zugeschossen, aber vieles war mir scheißegal.“ Und er wird aggressiv. Im Rückblick nennt Brähmer das „mental überreagieren“. Er bekommt mit, dass irgendetwas nicht stimmt, dass alles „auf den großen Knall zuläuft“. Den aber hört er noch nicht einmal, als er vor dem Jugendgericht steht. Denn Brähmer ist eine Verpflichtung für eine Box-Veranstaltung in Schwerin eingegangen. „Ich musste da unbedingt antreten, viele Leute hätten sonst viel Geld verloren.“ Um sich einen langwierigen Prozess zu ersparen, gibt er alles zu, was ihm vorgehalten wird. Dafür darf er vor Antritt der Strafe noch einmal boxen.

Das Schicksal meint es noch einmal gut mit dem gestrauchelten Boxer. Sein Mentor Michael Timm ist inzwischen als Trainer zum Hamburger Profi-Boxstall Universum gewechselt. Noch im Gefängnis bekommt Brähmer einen Profivertrag. Er darf einen Teil der Strafe in der Jugendhaftanstalt auf der Elbinsel Hahnöfersand absitzen. Als Freigänger geht er trainieren, Timm wird sein Bewährungshelfer.

Im Dezember 1999 boxt Jürgen Brähmer zum ersten Mal als Profi. Im September 2000 wird die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Er bestreitet Kämpfe im Monatstakt und gewinnt Boden unter den Füßen. Damals, sagt er heute, „habe ich für mich die Entscheidung getroffen, mein Leben zu ändern“. Es kommt anders.

Im Oktober 2002 soll Brähmer zum ersten Mal um den Titel eines Interkontinentalmeisters boxen. Kurz vor dem Kampf verursacht er in Hamburg einen Autounfall. Brähmer bekommt Panik. Die Bewährung läuft noch, und er hat keinen Führerschein. Als der Unfallgegner darauf besteht, die Polizei zu rufen, fährt Brähmer davon. Der andere stellt ihn in einer Sackgasse, dem Boxer brennen die Sicherungen durch. Er schlägt zu. Das Landgericht Rostock verurteilt ihn wegen Körperverletzung zu zwei Jahren und sechs Monaten; zusammen mit einer zur Bewährung ausgesetzten Reststrafe werden es rund drei Jahre Haft. Brähmer darf noch einmal boxen und wird Interkontinentalmeister. Dann ist für drei Jahre Schluss.

Die Zeit im Gefängnis wird hart. Vorbei ist es mit den Privilegien des Hamburger Jugendvollzugs. In Mecklenburg-Vorpommern lernt Brähmer den trostlosen Knast-Alltag kennen. Er will nicht, dass ihn seine Familie besucht, „meine Mutter sollte ihren Jungen nicht im Knast sehen“. An Sport ist anfangs nicht zu denken. Michael Timm will ohnehin nicht mehr mit ihm arbeiten. „Jürgen ist ein lieber Mensch, nur manchmal rastet er aus. Er war eine Zeitbombe“, sagt Timm. „Wenn dein Schützling so abstürzt, hast du als Trainer versagt.“

Doch Jürgen Brähmer lässt nicht von dem Vorsatz, den er noch in Freiheit gefasst hat. „Ich hatte mit dem alten Leben abgeschlossen. Und wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann ziehe ich das auch durch.“ Er macht mit einem Psychologen eine Verhaltenstherapie und lernt dabei, wie er Konflikten aus dem Weg gehen kann. Ein Psychologe schreibt in seinem Gutachten, dass durch die positive Einstellungsänderung von einer günstigen Prognose auszugehen ist.

Im März 2005 wird Brähmer Freigänger. Er trainiert bei Chuck Talhami, einem Amerikaner, der schon bei Muhammad Ali in der Ringecke stand. Im Herbst 2005, nach 1065 Tagen, kommt Brähmer auf freien Fuß. Für seine 27 Jahre hat er viel Lebenserfahrung, „ob sie nun gut oder schlecht war – ich habe sie gemacht“. Die Beziehung zu Michael Timm kommt wieder ins Reine. Brähmer macht den ersten Schritt und gewinnt den Mann, der ihn entdeckt hat, für einen Neuanfang. „Jürgen hat die Straßenseite gewechselt“, sagt Timm. „Er hat gelernt, sich zu steuern.“ Die beiden Kämpfe seit der Entlassung hat Brähmer souverän gewonnen. Seine Bilanz nach 26 Profikämpfen: 26 Siege, 22 davon durch K.o.

Wo er stünde, wenn er nicht auch außerhalb des Rings zugeschlagen hätte? Jürgen Brähmer stellt sich diese Frage nicht mehr. Weihnachten war schön, Silvester auch. „Boxen ist nicht mein Leben“, sagt er. „Wenn es einmal so weit kommen sollte, ist es wohl zu spät.“

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