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Sport: Schneller als die Vergangenheit

Kelli White wird Sprintsiegerin – ihr größter Erfolg war ein anderer

Paris. In diese fast atemlose Stille hinein, die 50 000 Menschen in einem Stadion vor einem wichtigen Moment erzeugen können, hob die Athletin auf Bahn sieben die Hand. Gail Devers erhob sich aus ihren Startblöcken. Der Startschuss zum 100-m-Finale der Frauen bei der Leichtathletik-WM, verzögerte sich. Die Geste von Devers hatte in dieser Sekunde etwas Unpassendes. Irgendetwas hatte sie gestört. Sie brach damit die Spannung dieses Augenblicks. Sie passte einfach nicht in diese knisternde Atmosphäre, diese Geste. Die US-Sprinterin Devers war selber mal Weltmeisterin über 100 m, 1993, aber den Auftritt der aktuellen Starsprinterin bei dieser WM konnte sie nur verzögern.

Ein paar Minuten später riss Kelli White aus Oakland/Kalifornien, zwei Meter vor dem Ziel die Hände in die Höhe. Es war mehr als bloß eine Geste des Triumphs, denn die 26-Jährige konnte sich diese Geste ja leisten. Und das zeigte, wie klar sie gewann. In 10,85 Sekunden, in Weltjahresbestzeit, acht Hundertstelsekunden schneller als Torrie Edwards (USA). Shanna Block, die Titelverteidigerin aus der Ukraine, kam auf Platz drei (10,99 Sekunden). Chandra Sturrup wurde nur Vierte. Ausgerechnet Sturrup von den Bahamas. Sie hatte White in drei Golden-League-Rennen geschlagen, jeder erwartete einen Zweikampf zwischen ihr und White, der zweimaligen US-Meisterin.

Aber egal, wer letztlich gewinnen würde, klar war auch, dass die Siegerin aus dem langen Schatten der Starsprinterin Marion Jones rennen würde. Jones kommentiert die WM fürs Fernsehen, sie ist junge Mutter, sie beginnt erst wieder mit dem Training. Jones hatte alles überschattet mit ihrer Dominanz, auch wenn sie 2001 überraschend im WM-Finale unterlegen war. Wie befreiend es sein konnte, die große Rivalin nicht mehr zu spüren, erfuhr Kelli White bei den US-Meisterschaften. Sie gewann über 100 m und 200 m, auf einmal, sagte sie, musste sie Interviews geben. Sie ist das nicht gewohnt. Sie wurde 2001 Staffel-Weltmeisterin, sie lief in jenem Jahr mit 22,38 Sekunden die zweitschnellste Zeit der Welt, ja und?

Andererseits, das Rennen ihres Lebens, lief sie schon 1994. Damals lief sie wirklich um ihr Leben. Sie wohnte damals in Union City/Kalifornien, und sie wartete an diesem Tag arglos auf einen Zug. Plötzlich stürzte eine junge Frau grundlos auf sie zu und stach mit einem Küchenmesser auf ihr Gesicht ein. Die Ärzte benötigten 300 Stiche, um die Wunden zu nähen. Seither kann sie links nur eingeschränkt sehen.

Gestern wurde sie Einzel-Weltmeisterin. Es ist nicht wirklich ihr größter Triumph.

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