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Nicolas Feißt, Schülerreporter der "Paralympics Zeitung".

© Thilo Rückeis

Schüler schreiben: "Wenn ich etwas wirklich will, kann ich es auch schaffen"

Erst verstand ich kein Wort. Dann alles: Premiere beim Rollstuhlbasketball. Eine Lektion in Sachen Menschlichkeit in Manchester. Ein Workshopbericht.

Zwei Tage Englisch reden; meine Sorgen waren groß, als ich nach Birmingham zum Workshop flog. Diese schienen sich bei der Ankunft dann gleich zu bestätigen: jeder redete Englisch, und ich verstand rein gar nichts. Obwohl ich kein Wort sagte und genauso viel verstand, merkte ich, dass alle wahnsinnig freundlich und vermutlich genauso aufgeregt waren wie ich. Es war wirklich merkwürdig, als ich mit Dominik und Karla in den Flieger stieg – wir kannten uns erst wenige Minuten, doch es war, als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen. Diese Offenheit war auch bei allen anderen Teilnehmern vorhanden, sodass wir uns wirklich alle blendend verstanden.

"Fang jetzt bloß nicht an zu weinen"

Als am Abend dann die ersten Videos gezeigt wurden, schossen mir die Tränen in die Augen, da ich auf so viele Emotionen nicht vorbereitet war. „Fang jetzt bloß nicht an zu weinen“, sagte ich zu mir. Ich fragte mich, wie ich reagieren solle, falls ich wirklich in London im Stadion säße und anfangen sollte, in Tränen auszubrechen. Das wäre doch unprofessionell, doch Gott sei Dank werde ich später im Gespräch mit Annette erfahren, dass dies normal sei. Zudem war ich nicht der Einzige, der bei den Videos sentimental wurde. Es war beinahe magisch, wie gebannt alle zuhörten, als Martin mit uns redete. Ich fand es sehr wichtig, dass er uns sagte, wir sollten uns hinsetzen, wenn wir mit einem Rollstuhlfahrer sprächen. Von alleine würde dies wohl nur den wenigsten auffallen. Auch die Rede von David Smith beeindruckte mich: als er mit den Worten „Wer hätte nicht gerne meinen Job?“, abschloss, hätte ich ihm am liebsten ein lautes „Ich!“ entgegengerufen, und irgendetwas in mir sagte mir, dass das ganze Projekt eine Riesenchance für mich sein könnte. Nachdem ich bei Anns Rede noch hoffnungslos mit dem Englischen überfordert war, kamen nach und nach auch meine Kenntnisse zurück. Beim Abendessen, als ich mich mit Keri unterhielt, um sie später vorzustellen, konnte ich mich nicht mehr vor dem Englischen drücken und traute mich dann auch erstmals, es zu sprechen. Ab dem Zeitpunkt gab es kaum noch etwas, was ich nicht verstanden hätte.

Ich sah begeistert zu - und vergaß fast meinen Artikel

So hatte ich meinen ersten inneren Kampf überwunden, und nachdem der erste Abend bereits einige Momente bot, in denen man eine Nadel hätte fallen hören, waren auch am zweiten Tag große Emotionen angesagt. Ich war beeindruckt, welch hohes Tempo das Fußballspiel hatte, da ich mit Blindenfußball rechnete und, obwohl ich oft Paralympics schaue, gar nicht wusste, dass es im Fußball verschiedene Klassifizierungen gibt. Maxies und mein Ziel war es, das wir mit der deutschen Männer-Nationalmannschaft im Rollstuhlbasketball sprechen wollten, ich insbesondere mit dem Trainer. Als wir dann ankamen, lief dort gerade die Schlussphase und nach dem Spiel wollten wir zu ihm. Er lief jedoch links in die Umkleide – wir rechts in die Mixed Zone. Dort war dann Jan Haller, einer der Spieler, und er beantwortete all unsere Fragen – bis eine Pressefrau ihn und uns zum Gehen aufforderte, obwohl weit und breit niemand war, der den Platz gebraucht hätte. Er schien ebenso überrumpelt wie wir mit der schnellen Mixed Zone, doch wie fasziniert waren Maxie und ich nach dem Interview. Wir hatten beide nicht eine Sekunde daran gedacht, ihn nach seiner Behinderung zu fragen. Wir vergaßen es einfach, und interessierten uns nur für den Sport, wir wollten mehr erfahren über die Nationalmannschaft, ihre Vorbereitung, ihre Ziele. Ich war gefesselt vom Rollstuhlbasketball, sodass ich zwischenzeitlich gebannt dem Spiel zusah und eine knappe Stunde, Schande über mich, nicht an meinen Artikel dachte. Zwar wusste ich,  dass die Spieler beim Rollstuhlbasketball oft zusammenkrachen, doch dass so häufig jemand auf dem Boden lag, das ließ mich ebenso erstaunen wie die Technik, mit der sie sich selbst wieder aufrichteten. Außerdem zauberte mir die Art und Weise, wie Alices Schwester spielte, ein Lächeln ins Gesicht und ließ mich meine bisherigen Vorstellungen, dass ich als Journalist ruhig und sachlich bleiben müsse, vergessen. Wer fieberte da nicht mit? Wer wurde nicht von der Lebensfreude gepackt, die sie bereits vor dem Spiel ausstrahlte, als sie bei uns stand?

Zum Training der Jugend eingeladen

Maxie riss mich ziemlich genau alle zwanzig Minuten aus meinem Staunen heraus, um noch einmal nach dem deutschen Team zu schauen. Ständig sagte irgendetwas in mir, dass wir den Trainer noch interviewen könnten, falls wir durchhalten würden. Als wir dann noch knapp eine Stunde hatten, und wir unseren zehnten Rundgang beendet hatten - mittlerweile kannten wir sogar schon die Umgebung um das Fußballstadion von Manchester City – stand er plötzlich vor mir. „Das ist er!“, flüsterte ich Maxie zu. „Bist du dir sicher?“, fragte sie. Ich war mir sicher, und so fragten wir ihn, ob er Zeit für uns hätte. „Wenn ihr Kaffee habt, immer.“, antwortete er und wir gingen in den Presseraum, wo er uns eine halbe Stunde jede Frage ausführlich beantwortete, bis wir das Gefühl hatten, wir sollten so langsam mal aufhören, da er ja schließlich gekommen war, um die Spiele zu verfolgen und nicht, um nur Kaffee zu trinken. Doch wir hatten uns getäuscht, nachdem wir das Gespräch beendet hatten und nach draußen gingen, griff er das Gespräch wieder auf und redete nun draußen nochmals knapp zehn Minuten mit uns. Zudem haben wir nun seine Kontaktdaten und für uns steht fest: Wenn wir Zeit haben, müssen wir jedes Training und jedes Spiel der Rollstuhlbasketballer sehen. Ich wurde sogar zum Turnier der Rollstuhlbasketball-Jugend in Stuttgart eingeladen und unser Durchhaltevermögen hatte sich schließlich mehr als gelohnt.

Die vielen Eindrücke rächten sich – zumindest bei mir – am Abend dann. Alle schienen zu schreiben, doch ich wusste nicht einmal, an welcher Ecke ich anfangen sollte. Als Karin uns das erste Mal ins Bett schicken wollte, konnte ich wenigstens die Einleitung schreiben. Das war dann aber auch alles. Also wollte ich meinen Bericht auf Maxies Laptop schreiben, doch es sollte 2.30 Uhr werden, bis sie ihren Artikel fertig hatte, dann flogen meine Finger jedoch nur so über die Tasten und um 3.27 Uhr war ich endlich fertig – das würde in London definitiv nicht so funktionieren, doch dieses Mal ging alles gut.

Die Freude in Person

Am Sonntag erfuhr ich dann, dass ich mit Leichtathletik meine Wunschwahl bekam und wirklich vielleicht die Möglichkeit haben würde, Oscar Pistorius zu interviewen. Als Annette dann nach dem Lesen meines Artikels zu mir sagte: „Könnte sofort gedruckt werden, da merkt man den erfahrenen Sportjournalisten.“, war ich wohl die Freude in Person.

Nun habe ich 13 Jahre Schule hinter mir, aber an einem Wochenende Birmingham habe ich mehr über Lebensfreude und Werte gelernt als in dieser ganzen langen Zeit. Auch die Lektion „Wenn ich etwas wirklich will, kann ich es auch schaffen.“, wurde mir noch nie so deutlich vor Augen geführt. Während auf dem Hinweg noch der Gedanke, meinen Namen in der Paralympics Zeitung zu sehen, am meisten motivierte, so hat sich dies nun grundlegend verändert. Meine Motivation ist nun, dass mehr Menschen sich für die Paralympics interessieren, dass mehr Menschen diese Eindrücke, die wir von Martin und vor allem aber auch am Samstag, erfahren haben, ebenfalls vermittelt bekommen. Deshalb will ich jetzt in den drei Monaten vor den Paralympics am Ball bleiben und so viel wie möglich über diesen Sport schreiben, um möglichst viele Menschen zu erreichen, damit diese sehen, wie viel wir von den Menschen, die mit einer Behinderung leben, lernen können.

Die Barrieren müssen schließlich abgebaut werden. Und da meine größten Sorgen wirklich die blieben, dass ich niemand verstehen würde, konnte ich auf meinem Nachhauseweg über mich selbst lachen. Schließlich hatten mir die Menschen, von denen ich immer gedacht hatte, dass sie Sorgen ohne Ende hätten, vorgemacht, wie lächerlich und überbewertet solche Sorgen eigentlich sind.

Meinem Interviewpartner sei Dank

Was ich aber nach dem Wochenende nun als Erstes machen muss, ist mich bei meinem Interviewpartner für den Wettbewerb nochmals zu bedanken. Schließlich konnte ich nur durch seine guten Antworten einen siegesfähigen Artikel schreiben und nach dem Interview mit ihm hatte ich schon das Gefühl, mich irgendwie in einem positiven Sinne zu verändern. Dieses Gefühl hatte ich das ganze Wochenende auch, und ich bin mir sicher, dass wir in London nicht nur eine unvergessliche Zeit haben werden, sondern auch in menschlicher Hinsicht unheimlich viel lernen werden.

Nico Feißt

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