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Sport: Schuld ist das System - oder der Rasen oder das Wetter

Der Dortmunder Fan leidet mit seinem Verein, und er ist bereit, zu verzeihen - wenn es doch nur wieder nach oben gehtBenedikt Voigt Dortmund misst 12 Quadratmeter. Auf der rechten Seite steht ein drei Meter hoher Fernsehturm, die Fenster an den Häusern neben den Werbetafeln "Ruhr Nachrichten" und "Union-Brauerei" blinken in bunten Farben.

Der Dortmunder Fan leidet mit seinem Verein, und er ist bereit, zu verzeihen - wenn es doch nur wieder nach oben gehtBenedikt Voigt

Dortmund misst 12 Quadratmeter. Auf der rechten Seite steht ein drei Meter hoher Fernsehturm, die Fenster an den Häusern neben den Werbetafeln "Ruhr Nachrichten" und "Union-Brauerei" blinken in bunten Farben. Dortmunds Vorderkante begrenzen zwei Flutlichtmasten aus Pappmaché. Unter ihnen steht ein Müllmann, der einen neongelben Overall, die Nummer zehn sowie die Buchstaben G-ü-n-n-a auf dem Rücken trägt. Günna erzählt von Borussia Dortmund: "Vorsichtshalber wurden alle Bundesligaspiele auf Sonntag verlegt, damit die Mannschaft uns Doatmundern nicht imma widda den Samstagabend versaut." Und er fragt: "Ey hömma, weißt du schon, dat Borussia jetzt den Busfahrer von Wattenscheid 09 gekauft hat? Der kennt den Weg zu alle Stadien der Zweiten Liga."

Zehn Minuten später ist Günna ein anderer Mensch. Er heißt jetzt Bruno Knust, sitzt im Kassenraum des Olpketal-Theaters und sagt: "Dortmund wird selbst mit den Alten Herren nicht absteigen." Im ersten Teil seiner Dortmund-Revue bringt Bruno Knust das Publikum mit seinem derben Ruhrpott-Charme zum Lachen. Jetzt aber muss Günna, wie sie Bruno Knust in Dortmund alle nennen, nicht mehr lustig sein. Er kann es auch nicht. Es geht um Borussia Dortmund. Günna ist wie der Verein am Borsigplatz geboren, und er war Stadionsprecher im Westfalenstadion. Bis die Fußballsendung "ran" ihn und seine Handpuppe namens Günna verpflichtete. Auch die Borussia-Hymne, die nun vor jedem Heimspiel über die Beschallungsanlage dröhnt, ist von Günna komponiert. Hymne? "Ein Gebet", sagt das Dortmunder Mulittalent. Sein Beruf ist Witze erzählen, aber "vor zwei Wochen haben ich beschlossen, dass ich keine bösen Witze mehr über Borussia mache. Wenn einer am Boden liegt, dann soll man nicht mehr drauftreten".

"Die Fans sind zu Recht unzufrieden", sagt Michael Zorc. Der Sportdirektor von Borussia Dortmund steht an seinem Auto auf dem Trainingsplatz hinter dem Westfalenstadion. Über ihm strahlt die Frühlingssonne, doch Zorc zieht ein ernstes Gesicht. Er sucht nach Worten. "Nach dem Misserfolg - nein, ich will es anders sagen - nach den sehr schmerzlichen Niederlagen, muss man Verständnis für die Fans haben." Das Team rutscht immer tiefer in die sportliche Krise. Das 1:3-Heimdebakel am vergangenen Sonnabend gegen den damaligen Tabellenletzten Bielefeld war der Tiefpunkt. Wirklich? Noch ist es dem neuen Trainer Bernd Krauss nicht gelungen aus dem für 41,5-Millionen Mark verstärkten Ensemble, eine Mannschaft zu formen, die Fußballspiele gewinnt. Seit neun Spielen wartet der Coach auf einen Sieg. Dortmunds Niedergang äußert sich inzwischen in Rang elf der Bundesligatabelle und nur noch sieben Punkten Abstand zur Abstiegszone. Und die nächsten Gegner lauten Werder Bremen, Hamburger SV und Bayer Leverkusen. Michael Zorc erklärt: "Wir müssen jetzt alle Energien bündeln, um die nötigen Punkte für den Klassenerhalt zu holen."

Auch die Caritas-Tagesstätte St. Stephanus aus Dortmund-Nette hat an diesem Vormittag ihre Kräfte gebündelt, und zog geschlossen vor die Einfahrt des Trainingsgeländes. "Ihr schafft das schon" und "Wir glauben an Euch" haben die beiden Erzieherinnen auf Plakate gemalt. Die Kindergärtnerinnen sind mit einem schwarz-gelben Trikot und einem Schal bewehrt und ihre Begeisterung für den Fußballsport ist ungleich größer als bei den Fünf- und Sechsjährigen. "Wann gehen wir heim", fragt der fünfjährige Riccardo. "Ruft mal Susi", antwortet Erzieherin Petra. "Sssu-ssii, Sssu-sssi", lispeln die Kleinen. Es ist der Spitzname von Michael Zorc, der jetzt endlich auch lachen kann. Der leidgeprüfte Sportdirektor sagt: "Schön, dass wir euch haben."

Mit 587 590 Einwohnern ist Dortmund die siebtgrößte Stadt Deutschlands. Früher war Dortmund bekannt für Kohle, Stahl und Bier. Heute ist es eigentlich nur noch Fußball. 1988 schloss mit Minister Stein die letzte Dortmunder Zeche, die Arbeitslosenzahl stieg in den achtziger Jahren auf 17 Prozent. Seitdem stellt Dortmund sich in seiner Geschichtsbroschüre als "Dienstleistungs und Handelszentrum für die gesamte Region Westfalen" vor. "Das Herz Westfalens", lautet der neue Slogan der Stadt, "stark in Europa." Taxifahrer Volker, der alle seine 52-Jahre in Dortmund verbrachte, sieht das anders: "Dortmund ist eine sterbende Stadt." An Wochentagen ist abends in der Innenstadt nichts mehr los. Und jetzt ist der Stolz der Stadt, der Champions-League-Sieger von 1997 und fünfmalige Deutsche Meister, nicht mehr stark genug für die deutsche Bundesliga?

Das glaubt zumindest der Zuschauer vor der Einfahrt zum Trainingsplatz, der seinen Namen nicht nennen will. "Das geht noch runter bis auf Platz 16", sagt der Renter, der 26 Jahre lang im Stahlbau arbeitete. "Wenn Borussia ein Haus wäre, dann wäre es längst zusammengekracht." Alle Spieler würden zu viel Geld verdienen. Da allerdings ist sein Freund Manfred Friedrich, Maschinenbauschlosser, anderer Meinung: "1997 hat keiner danach gefragt, wieviel Geld der Möller verdient." Auch andere Namen tauchen in der Diskussion der auf. Lehmann. "Arrogant und unsportlich", findet der Stahlbauer den ehemaligen Torwart des Rivalen Schalke 04. Oder Trainer Ottmar Hitzfeld, die Dortmunder zwischen 1991 und 1997 trainierte. "Was hat der Hitzfeld für ein Training gemacht", schwärmt der Rentner. Seit 1993 beobachte er die Übungsstunden der Profis, "heute laufen die nur noch." Bernd Krauss. An ihm liege es nicht, sagt der Renter. Er schiebt die Schuld auf "das System". "Die können doch alle Fußball spielen, das haben sie in anderen Vereinen bewiesen", erklärt der ehemalige Stahlbauer. Also müsse das System nicht stimmen.

Es gibt noch seltsamere Erklärungsversuche. "Das Wetter und der Rasen sind schuld", sagt ein anderer Trainingskiebitz. Im Westfalenstadion nebenan liegt bereits der dritte Rasen in dieser Spielzeit. Der Zuschauer mit dem Schnauzbart und der rauhen Stimme ("Schreiben Sie einfach Werner, Sportsfreund") vermutet sogar, dass Borussia absichtlich schlecht spielt, um den Ausgabepreis für den Börsengang zu drücken. "Danach wird die Aktie nach oben schießen", erklärt Sportsfreund Werner. Sein Freund fragt ihn: "Sag mal, was träumst du eigentlich nachts?" Vielleicht hat sogar der ältere Herr mit der blauen Trainingsjacke Recht, der mit enttäuschter Stimmte sagt: "Dat iss doch nit mehr Fußball hier, dat iss Leistungssport."

Um Leistungssport zu sehen, kommen die vier Herren jedenfalls nicht täglich zum Training. Alle sammeln sie Autogramme. Manfred kann sich auch für Kugelschreiber begeistern, weshalb er Journalisten, schon mal um ihr Schreibgerät bittet. Als Michael Zorc durch das Tor fährt, spricht der Maschinenbauer auch den Sportdirektor an: "Haste an meinen Kugelschreiber gedacht?" Zorc legt den Rückwärtsgang in seinen Mercedes ein, rollt zurück und kommt mit einem schwarz-gelben Kugelschreiber wieder. Wenigstens einen Fan hat Borussia Dortmund an diesem Tag zufrieden gestellt.

Dabei war es um das Verhältnis von Fans und Spielern schon einmal schlechter bestellt. Nach dem 1:1 im Heimspiel gegen Ulm mussten sich die Spieler Beschimpfungen wie "Scheiß-Millionäre" oder "Söldnertruppe" gefallen lassen. "Nach der Niederlage gegen Bielefeld waren die Fans nur noch traurig", erzählt Aki Schmidt, "die haben das hingenommen." Das 65-jährige Fußballidol der Borussia ist zusammen mit Lothar Emmerich Fan-Beauftragter bei den Borussen. "In den letzten Tagen arbeiten wir rund um die Uhr", erzählt Schmidt. Während beim Nachtmittagstraining eine Mannschaft sprachlos auf den Rasen läuft und beim einstündigen Trainingsspiel mal wieder kein Tor erzielt, müssen die beiden Borussen-Altstars nebenan die Fans beruhigen. "1969 waren wir auch Viertletzter", sagt Emmerich, dessen Gesichtfarbe mit der Krawatte um den knalligeren Rotton kämpft, "dann muss man eben jetzt erst recht kämpfen." Seit drei Jahren betreut Aki Schmidt die Fans. In dieser Zeit erhöhte sich die Anzahl der Fanklubs von 250 auf 500. Nun hält er alle vier Wochen eine Fan-Delegierten-Tagung ab, auf der er den Anhängern Rede und Antwort steht. Dabei stellte Schmidt fest. "Echte Fans stehen zur Mannschaft und wissen, dass es auch früher Zeiten gegeben hat, in denen der Verein nicht so gut dastand." Allerdings gibt Emmerich zu: "Wer soll sonst zur Mannschaft stehen, wenn nicht wir. Aber es ist auch klar, dass uns die Situation auch weh tut."

Giovanni Mazza spürt die Dortmund-Krise sogar in seinem Geldbeutel. Der Italiener fährt täglich mit seinem Eiswagen beim Trainingsgelände vor. "Wenn Dortmund gewinnt, verkaufe ich am nächsten Tag 100 Kugeln Eis", erzählt Mazza. Am Mittwoch, einem herrlichen Frühlingstag mit 18 Grad und Sonnenschein, durfte er nur 50 Mal eine Eiswaffel durch das kleine Fenster reichen. "Die Leute laufen doch nur noch so durch die Gegend", sagt der Eisverkäufer und zieht die Mundwinkel nach unten, "manchmal mache ich sogar Benzinverlust, wenn ich hierher fahre." In seinem Bus hing früher ein Mannschaftsposter von Borussia Dortmund. Seit ihn aber ein angetrunkener Hertha-Fan wegen des Posters mit einer Bierdose bewarf, verdrängte ein Plakat mit einer bunten Eispyramide und der Aufschrift "Bella Italia" die schwarz-gelben Farben aus Eiswagen. Ein Zuschauer weiß, wie sich Mazzas Einnahmen steigern ließen: "Du musst auch Bier mitdabeinehmen", sagt er. Borussia Dortmund dürfte allerdings beim gegenwärtigen Tabellenstand etwas gegen alkoholisierte Fans beim Training einzuwenden haben.

Der Verein sträubt sich ja auch gegen die Veröffentlichung der aktuellen Merchandising-Zahlen. "Wir geben keine Auskünfte über die Trikotverkäufe", sagt die Empfangsdame am Donnerstag Vormittag im Dortmunder Verwaltungsgebäude. Das muss Borussia auch gar nicht. Es genügt, in der Felicitasstraße eine Hausnummer weiter zu gehen. Dort residiert vor der romantischen Kulisse eines verrosteten Hoesch-Stahlwerks der "BVB-Mega-Store". Am Fenster der geräumigen Lagerhalle prangt die Angebotsliste: Trikot Streifen 69,90 Mark durchgestrichen, jetzt 29 Mark; Trikot Sport 59,90 jetzt 25 Mark, Poloshirt 49,90 Mark durchgestrichen, jetzt 19 Mark. Die Sonderangebote wollen kein Ende nehmen und auch im "Mega-Store" bestätigt sich der Eindruck, dass Rennschlitten und Bettwäsche mit dem Logo von Borussia Dortmund schon einmal angesagter waren. Abgesehen von zwei Verkäufern ist die Verkaufshalle leer. Halt, das stimmt nicht. Ein Kunde ist da. Es ist Manfred, der Kugelschreibersammler vom Trainingsplatz. "Haben Sie noch eine Autogrammkarte von Bernd Krauss?", fragt er den Verkäufer. Er bekommt sie, umsonst.

Bruno Knust alias Gunnä sitzt unterhalb des Fensters seines Kassenhäuschen im Theater Olpketal und unterhält sich über sein Lieblingsthema. Die Pausenklingel ruft die Zuschauer wieder in den Bühnenraum, doch der Hauptdarsteller kommt in dem kleinen Nebenraum gerade erst so richtig in Fahrt. "Jetzt heißt es Bielefeld war stark und demnächst kommt Unterhaching, oooh", sagt das Dortmunder Unikum, "am liebsten möchte ich mit meiner Altherrentruppe gegen Borussia antreten, wir wollen auch einmal stark geredet werden." Er glaubt eine andere Ursache für das Problem von Borussia Dortmund mit den Fans zu kennen. "Die Fans sind in der Vergangenheit zu sehr glorifiziert worden", sagt Günna. "Wenn sie jetzt mal schimpfen, wird das zu ernst genommen." Auch bei den Bayern würden die Fans böse werden, wenn es mal nicht so liefe. Allein, bei den Münchnern läuft es. "Wir können nicht jedesmal ein TED-Abstimmung bei den Fans durchführen, welche Spieler eingesetzt werden sollen."

Nein, diagnostiziert Günna, während sich der Vorraum leert, und die Kassiererin ihn erstmals mahnend ansieht, der Mannschaft fehle ein Leitwolf. "Wir schreien auf der Tribüne immer: Der Lehmann ist frei", erzählt der Besitzer von fünf Dauerkarten. Lehmann habe im Spiel die meisten Ballkontakte. Überhaupt Lehmann. Der ehemalige Torhüter vom Dortmunder Erzrivalen Schalke ist für viele Dortmund-Freunde ein rotes Tuch. "Das wird total überbewertet", sagt Günna, "1926 war der erste Dortmunder Trainer ein Schalker Lizenzspieler." Lehmann habe immerhin eine professionelle Einstellung. Das Problem aber seien die "Zugereisten". "Wir haben zu wenige Spieler, die das schwarz-gelbe Trikot anhaben und mit dem Namen Borussia Dortmund nichts anfangen können." Viktor Ikpeba zum Beispiel, das sei jedem klar, sei ein Fehlgriff in Dortmund. Und dass Krauss rausfliegt? "Das halte ich für einen Aprilscherz." Da sind sie wieder, die Namen, um die sich in Dortmund momentan alles dreht.

Günna aber muss auf die Bühne, die Kassiererin hat ihn schon zum zweiten Mal lautstark ermahnt. Trotzdem steckt der Schauspieler noch einmal seinen Kopf durch die Tür und deutet auf den Freund, der an der Bar ein Bier trinkt. "Sag es, sag es", ruft der Müllmann ihm zu. "Am Sonntag knipsen wir Bremen weg", sagt der Mann an der Bar. Dann verschwindet Günna auf die Bühne. Im Raum bleibt aber noch jener Satz zurück, der den ehemaligen Stadionsprecher, Hymnenkomponisten und Dauerkartenbesitzer viel schwerer treffen muss, als alle Gegentore die Dortmund in dieser Saison einfing. Günna hatte gesagt: "Mein Sohn ist Bayern-Fan."

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