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Schweiz in Not: Kein Bild, kein Ton, kein Punkt

Wie die Schweizer erst das Fernsehbild und dann alles verloren: Jens Kirschneck vom Fanmagazin "11 Freunde" hat das Spiel der Schweizer gegen die Türkei für uns in verfolgt - wenn er denn etwas vom Spiel sehen konnte.

Das nennt man vorbildliche Manieren: „Der Typ neben mir ist aber zuerst dran“, sagt der Mann am Biertresen im Razzia. Das Razzia ist ein altes Kino in der Nähe der Züricher Fanmeile. An der Decke blitzen bizarren Fresken durch die Reste des Dämmmaterials, mit dem sie irgendwann zugekleistert wurden. Jetzt sind sie wieder teilweise freigelegt worden.

Die letzten 19 Jahre stand der Saal leer. Nun ist er als Public-Viewing-Hotspot reaktiviert worden. Hier verkehren vorzugsweise die „Szenis“, die hippen Leute, wie die Züricher Tagespresse berichtet. Für das vorentscheidende Spiel gegen die Türkei haben sich die „Szenis“ mehrheitlich in Rot-Weiß gekleidet.

Als das Spiel beginnt, gehen die Leute deutlich mehr aus sich heraus, als das höfliche Gebaren am Tresen erahnen ließ. Mit spitzen Schreien begleiten sie das Geschehen. Noch gibt es Grund zur Freude. Auf der Leinwand beziehungsweise in Basel setzt zwar der große Regen ein, aber die Schweizer schießen erst ein Tor und dann beinahe noch ein zweites. Während der türkische Trainer Fatih Terim sich windet und geißelt, als hätte sich alles Unglück der Welt auf ihn entladen, liegen sich die Menschen im Razzia in den Armen. Sämtliches Ungemach des bisherigen Turniers, die Tränen des Alexander Frei, der nicht gegebene Handelfmeter, die vermaledeite Latte des tschechischen Tores, all das scheint vergessen zu sein. Aber es holt das Razzia und die „Szenis“ und die ganze Schweiz wieder ein.

Zunächst fällt der Ausgleich der Türken. Aus dem Nichts, wie die Fußballer sagen. In Basel führt Trainer Fatih Terim an der Seitenlinie einen Veitstanz auf, im ehemaligen Kino in Zürich herrscht das blanke Entsetzen. Noch ahnt freilich niemand, dass dies kein vorübergehendes Unglück, sondern der Beginn eines Debakels ist. Denn als Nächstes wird im Razzia die Leinwand schwarz. Da, wo eben noch die Schweiz einen vielversprechenden Angriff gestartet hat, ist nun nichts als ein dunkles Bild und eine Einblendung oben links in der Ecke, die zwischen drei Varianten schwankt: „Signal schlecht“, „Kein Signal“, „Videosignal fehlt“. Gut klingt das alles nicht.

Die „Szenis“ beginnen zu pfeifen, zwei, drei, vier Minuten vergehen. Die Ersten verlieren die Nerven und verlassen den Saal. Die anderen rufen: „Frebi, Frebi, Frebi!“ Wer soll das sein? Der Gott der Übertragungstechnik? Nein, sie fordern nur Freibier. Plötzlich ist das Bild wieder da, ein Eidgenosse schießt, der türkische Torwart wehrt den Ball mit knapper Not ab, dann wird das Bild wieder schwarz. Im Razzia greifen sich die Ersten ans Herz. So geht es bis zum Ende weiter: Bild weg, Bild wieder da, Bild weg, Bild wieder da. Und dann fällt das 1:2.

Eine Viertelstunde nach Spielende auf der Straße: Zürich versinkt im Regen. Die in die Gesichter geschminkten weißen Kreuze auf rotem Grund verlaufen zu Schlieren. Die meisten Leute gehen stillschweigend nach Hause, einige rufen „Hopp Schwyz!“ – und das soll wohl trotzig klingen. Ein blondes Mädchen im Nationaltrikot sitzt in einem Hauseingang und weint.

Am nächsten Morgen ist die Stimmung nicht besser. „Abgesoffen“, titelt der „Blick“, und eine Lebensmittelkette beginnt, Personal auf den Fanzonen zu entlassen. Die ohnehin schlechte Nachfrage werde nun noch weiter nachlassen. Doch wie sagte der Schweizer Fernsehkommentator Bernard Thurnheer unmittelbar nach dem Abpfiff: „Wir wollten auch Europameister der Ausrichter werden. Konzentrieren wir uns also in den nächsten zwei Wochen auf dieses zweite Ziel.“ Viel Erfolg!

www.11freunde.de
 

Jens Kirschneck. 11 Fre, e

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