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Sport: Sechseinhalb Sekunden Vollkommenheit

Loopings sind unmöglich, doch die Hände taugen als Landeklappen: Skiflieger und Pilot Hubert Neuper erklärt seinen Sport

Berlin - Wenn es darum geht, das Geheimnis des Skifliegens zu erklären, würde Hubert Neuper am liebsten zeichnen. Einen Skiflieger, wie man ihn kennt, nach vorne gebeugt, die Hände dicht am Körper. Doch fertig ist die Zeichnung so noch nicht. Was das Skifliegen ausmache, sagt Neuper, stecke in dem Bogen, den man vom Kopf des Sportlers bis zu den Spitzen seiner Skier ziehen könne. Das, sagt Neuper, ergebe dann das Profil eines Flugzeugflügels: Oben ist er gebogen und unten gerade, genau wie der Skiflieger. So hat die Luft oberhalb eine längere Wegstrecke und ist schneller. Es entsteht ein Aufwind, der Flugzeug wie Mensch in der Luft hält. Beobachten kann man dieses Geheimnis ab heute bei der Skiflug-WM in Oberstdorf.

Dass ein Skiflieger wie ein kleines Flugzeug funktioniert, das weiß Hubert Neuper wie kein Zweiter. Der 47-jährige Österreicher ist ein potenziertes Luftwesen – er war Skispringer, Skiflieger und Pilot. 1980 und 1981 gewann er die Vierschanzentournee, 1982 dann den Skiflug-Weltcup am Kulm. Und ab 1987 arbeitete Neuper zehn Jahre als Flugzeugkapitän.

Mit dem Skispringen fing Neuper als Vierjähriger an, „anfangs waren es nur kleine Sprünge über ein paar Hindernisse“. Beim ersten Wettkampf war er zehn. Der Schritt vom Sprung zum Flug lag nahe – Neuper wuchs direkt beim Kulm auf, der größten Naturskiflugschanze der Welt. 200 Meter misst sie. Ab einer Länge von 180 Metern spricht man erst vom Skifliegen; von solchen Schanzen aus fliegt man viel schneller, höher, weiter als der normale Skispringer. Mit 17 Jahren machte Neuper seinen ersten Flug; das war, sagt er, der Moment, in dem er vom Stein zum Vogel wurde, nicht mehr wie ein geworfenes Ding zurück auf die Erde plumpste, sondern sich souverän in der Luft aufhielt, zumindest einige Sekunden lang. Nicht der Ballistik unterworfen sein, sondern den Gesetzen der Aerodynamik gehorchen, das bedeutet Skifliegen für Neuper.

Die Aerodynamik ist die gemeinsame Klammer seiner zwei Leben als Skiflieger und Pilot. Mit 18 Jahren, nach dem ersten Skiflug, begann Neuper seine Ausbildung zum Piloten. „Da erst habe ich begriffen, wie mein Sport eigentlich funktioniert“, sagt er und zählt die Parallelen auf. Bei der Landung zum Beispiel, da öffnen sich beim Flugzeug die Landeklappen, und solche formt auch der Skiflieger, wenn er kurz vorm Boden seine Hände ausstreckt. Oder wenn man an den Wind denkt: Von Flugzeugen kennt Neuper die Regel, dass man nie mehr als zehn Knoten Rückenwind bei der Landung haben sollte, auf der Schanze gilt, immer gegen den Wind zu landen.

Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen Flugzeug und Menschenkörper in der Luft. Ein Flugzeug kann man mit Quer- und Seitenruder lenken. Skiflieger vermögen weder Kurven noch Loopings zu fliegen, sie können sich nur leicht nach rechts oder links lehnen und ihrem Flug so eine Richtung geben. Doch das sind Kleinigkeiten, das Grundsätzliche sei gleich, sagt Neuper, auch im Gefühl. „Wider die Natur“ sei beides, „einfach herrlich“.

Eine solche Grenzüberschreitung ist immer mit Furcht verbunden. Schon zwei Tage vor einem Wettkampf produziert der Körper eines Skifliegers viermal mehr Adrenalin als sonst, während des Flugs schüttet er eine ebenso große Menge des Stresshormons Adrenalin aus wie ein Formel-Eins-Fahrer. Warum sich Menschen so etwas antun, hat der Psychoanalytiker Michael Balint mit dem Begriff „Angstlust“ zu erklären versucht. So nannte er die freudige Hinwendung zu potenzieller Gefahr, den dazugehörigen Menschentypus, der erobern und überwinden will, nannte er Philobat. Das ist dem Wort „Akrobat“ nachempfunden und bezeichnet einen, der lieber das Risiko eingeht, von einem Hochseil zu stürzen, als dass er unten festsitzt.

Hubert Neuper hat seinen Körper etwa 110 Mal als Flugzeug eingesetzt, länger als sechseinhalb Sekunden war er nie in der Luft. Trotzdem – diese Sekunden würde er nicht einmal eintauschen gegen die schönsten Langstreckenflüge aus seiner Pilotenzeit, etwa über die Sahara. Darin liegt dann wohl doch ein Unterschied. Sein Sport ist für Neuper die „vollkommenste Art“ zu fliegen.

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