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Tatort Umkleidekabine. Weil Sportvereine meist auf Ehrenamtliche als Trainer oder Betreuer angewiesen sind, können Täter diese offenen Strukturen ausnutzen.

© Getty Images/iStockphoto

Sexualisierte Gewalt in Sportvereinen: "Die Quote ist erschreckend hoch"

Eine Studie hat erstmals das Ausmaß sexualisierter Gewalt im deutschen Sport analysiert. Die meisten Vereine vernachlässigen ihre Schutzfunktion, sagt Studienleiterin Rulofs.

Bettina Rulofs, 45, ist stellvertretende Leiterin des Instituts für Soziologie und Genderforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Sie leitet das Projekt „Safe Sport“. Wir haben mit ihr über die Anfälligkeit von Sportvereinen für sexualisierte Gewalt gesprochen.

Frau Rulofs, in England erwächst ein Missbrauchsskandal im Sport in großem Ausmaß. Nun sind erstmals in Deutschland durch das Forschungsprojekt „Safe Sport“ Daten zur sexualisierten Gewalt im organisierten Sport vorgelegt worden. Sie sind die Koordinatorin des Projektes, in dem 1800 Kaderathleten zur sexualisierten Gewalt im Wettkampf- und Leistungssport befragt wurden. Was kam dabei heraus?

Ein Drittel der befragten Sportler und Sportlerinnen hat schon einmal eine Form von sexualisierter Gewalt im organisierten Sport in Deutschland erfahren, eine/r von neun schwere oder länger andauernde sexualisierte Gewalt. Und: Sportlerinnen sind signifikant stärker betroffen als Sportler.

Können Sie den Begriff „sexualisierte Gewalt“ spezifizieren?

Er ist ein Oberbegriff für verschiedene Formen der Machtausübung mit dem Mittel der Sexualität. Das können in der vermeintlich harmloseren Form sexistische Witze oder etwa WhatsApp-Nachrichten mit sexuellem Inhalt sein. In schwerer Form können das zum Beispiel unerwünschte Küsse sein, sexuelle Berührungen, versuchter Sex sowie Sex mit Penetration, jeweils gegen den eigenen Willen.

Wenn einer von neun Sporttreibenden schwere oder länger andauernde sexualisierte Gewalt im organisierten Sport erfährt, dann ist das eine erschreckend hohe Quote.

Ja, das ist eine erschreckend hohe Quote. Allerdings muss man bedenken, dass sich die Ergebnisse nicht von denen der Allgemeinbevölkerung unterscheiden. Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftlich weit verbreitetes Problem. Aber natürlich zeigt der Blick auf unsere Zahlen auch, dass die Organisation des Sports die unterschiedlichen Formen sexualisierter Gewalt bislang nicht verhindern kann. Das ist deshalb bemerkenswert, weil in allgemeinen Studien über sexualisierte Gewalt ja auch die Gewalt in Familien oder unorganisierten Settings miterhoben wird. Eine pädagogische Institution wie der Sportverein müsste eigentlich eine besondere Schutzfunktion aufweisen. Das tut er aber nicht.

Woran liegt das?

Das hat mehrere Gründe. Im Sport, vor allem im Nachwuchsleistungssport, können Abhängigkeitsverhältnisse entstehen. Die ungewohnte Drucksituation junger SportlerInnen, manchmal unterstützt durch ehrgeizige Eltern, kann dazu führen, dass der oder die junge SportlerIn sich dem Trainer oder den Mannschafts- oder Trainingskollegen bedingungslos unterwirft und die andere Seite dies wiederum bedingungslos ausnutzt. Ein weiterer Grund ist, dass im Sport mitunter familiäre Strukturen herrschen. Man verbringt oft viel Zeit mit dem Trainer oder den Trainingskollegen. Daraus entstehen enge emotionale Bindungen.

Und drittens?

Ist der Sport gerade auf breiter Ebene ein offenes System. Sportvereine sind geprägt und angewiesen auf Ehrenamtlichkeit. Es gibt in der Breite häufig keine professionellen Standards, was das Personal angeht. In der Regel freut sich ein Verein über jeden, der sich freiwillig engagiert. Sei es als Trainer oder in anderer Funktion. Das alles birgt Risiken für den Kinderschutz. Zumal Täter in diesem offenen System mitunter die Vereine wechseln.

Sportvereine können diese Risiken zumindest verkleinern, indem sie in einem erweiterten Führungszeugnis Auskünfte über hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter einholen. Tun sie das denn?

Den Sportvereinen steht in der Regel die Möglichkeit offen, von Mitarbeitenden die Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses, in dem Strafverfahren vermerkt sind, zu verlangen. Leider nutzt nur ein Viertel der insgesamt im aktuellen Sportentwicklungsbericht rund 13 000 befragten Vereine diese Präventionsmaßnahme. Mehr als die Hälfte der Vereine sehen solche Führungszeugnisse von ihren ehrenamtlichen oder hauptamtlichen MitarbeiterInnen nicht ein und planen auch nicht, dies in Zukunft zu tun.

Bettina Rulofs.
Bettina Rulofs.

© promo

Welche Rolle spielt Pädophilie in der Studie „Safe Sport“?

Pädophilie spielt eine Rolle, aber sie ist eben nur eine – wenn auch sehr schwerwiegende – Form sexualisierter Gewalt. Das Thema wurde in den vergangenen Jahren von den Medien stark in den Vordergrund gerückt. Auch bei den Missbrauchsfällen in England muss man mit dem Begriff vorsichtig sein. Pädophilie bezeichnet, allgemein gesagt, das primäre sexuelle Interesse von Erwachsenen an Kindern. Ob das auf die Fälle in England wirklich zutrifft, muss von Fall zu Fall erst noch geklärt werden.

Dann geht es in Ihrer Studie also nicht allein um Nachwuchs-Trainer als Triebtäter?

Es geht in der Studie um ein erweitertes Verständnis von sexualisierter Gewalt, in dem die Ausübung von Macht eine wesentliche Rolle spielt. Also auch darum, was sich die Jugendlichen gegenseitig antun.

Wie ernst nimmt der organisierte Sport die Problematik?

Einige Sportverbände, insbesondere die Deutsche Sportjugend und die Landessportbünde, tun in dieser Hinsicht sehr viel. In der vom DOSB 2010 verabschiedeten Münchner Erklärung etwa verpflichteten sich dessen Mitgliedsorganisationen, eine Kultur des bewussten Hinsehens zu entwickeln.

In den Vereinen wird aber offenbar nicht hingesehen.

Das ist zu pauschal. Es kommt auf die Struktur des Vereins an. Je größer er ist, je mehr Sparten er hat, je mehr hauptamtliches Führungspersonal ihm zur Verfügung steht, desto sensibilisierter ist der Verein für die Thematik. Außerdem wird interessanterweise auch dann genauer hingesehen, wenn Frauen im Vorstand des Sportvereins sind. In kleineren, von Ehrenamtlichkeit geprägten Vereinen ohne Frauen in den Leitungsfunktionen sieht das mit der bewussten Kultur des Hinsehens häufig anders aus.

Wie viele der rund 90 000 Sportvereine haben das Thema denn überhaupt auf der Agenda?

Leider nur die Hälfte, ein Drittel der Vereine hat gar keine spezifischen Präventionsmaßnahmen ergriffen. Das ist bedenklich, denn sexualisierte Gewalterfahrungen machen SportlerInnen am häufigsten im unmittelbaren Kontext des Vereins.

Glauben Sie, dass in Deutschland – ähnlich wie in England – eine Flut von Missbrauchsfällen innerhalb des organisierten Sports ans Licht kommen könnte?

Es gab auch in Deutschland bereits einzelne Fälle von sexualisierter Gewalt gegen SportlerInnen, die öffentlich bekannt wurden. Nur haben sich dafür in der Regel nicht viele interessiert. Unsere Gesellschaft normalisiert sexualisierte Gewalt und tabuisiert damit gleichzeitig das Leid und die schweren Belastungen der Betroffenen. Dies macht es für Betroffene so schwer, sich zu offenbaren. Auch in Deutschland steht eine tiefgehende Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt im Sport noch aus.

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