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Mitunter Ort des Verbrechens und Tabuzone: Die Umkleidekabine.

© Getty Images/iStockphoto

Sexueller Missbrauch von Kindern im Sport: „Ein im Verein angesehener Trainer hat große Macht“

Aufklärungsexpertin Sabine Andresen über den Sport als Gefahrenort für Kinder und Jugendliche und wie sich Vereine gegen sexuellen Missbrauch wappnen können.

Sabine Andresen, 53, lehrt an der Universität Frankfurt am Main. Seit 2016 ist sie Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

Frau Andresen, Ihre Kommission hat sich bereits um die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im familiären Umfeld, in der DDR sowie in Kirchen verdient gemacht. Nun kümmert sie sich diesbezüglich um den Sport. Was macht ihn für Kinder und Jugendliche gefährlich?

Der bloße Umstand, dass er so viele Gelegenheiten für die Täter bietet. In den Umkleidekabinen oder auf den gemeinsamen Wegstrecken zum Sport. Und grundsätzlich geht es beim Sport logischerweise um Körperlichkeit, Trainer geben Hilfestellungen etc. Das alles lockt Täter an. Und die jungen Opfer realisieren oft nicht oder zu spät, was vor sich geht.

Bis hinein in den Leistungssport?

Im Leistungssport kommt noch hinzu, dass es für Sportlerinnen und Sportler normal ist, die eigenen physischen und psychischen Grenzen zu überschreiten. Auch das bietet Tätern eine Gelegenheit. Denn durch diese Grundhaltung wird es Sportlern schwer gemacht, auch bei sexueller Gewalt die eigenen Grenzen zu erkennen beziehungsweise Grenzverletzungen nicht hinzunehmen. Es herrscht großer Aufarbeitungsbedarf, weil sexueller Missbrauch im Sport tabuisiert wird.

Was sind die Gründe dieser Tabuisierung?

Es gibt zum Beispiel starke Loyalitätskonflikte. Es können enge Beziehungsgeflechte in den Vereinen herrschen, sie sind mitunter wie kleine Familien. Ein im Verein angesehener Trainer hat große Macht. Oft heben auch die Eltern die Bedeutung des Trainers heraus. So entsteht für ein betroffenes Kind ein hoher Schweigedruck. Das System tut viel, um die Betroffenen zum Schweigen zu bringen.

Was kann man dagegen tun?

Man muss die Gesellschaft dafür sensibilisieren. Das ist der Zweck unserer Arbeit. Wir geben Betroffenen eine Stimme und wollen damit auf die Gefahren aufmerksam machen und auch auf die Folgen, die sexueller Missbrauch hat. Wir wollen auch zum Beispiel die Eltern ermuntern, dass sie an die Vereine herantreten und dort fragen, ob es ein Schutzkonzept für die Kinder und Jugendliche gibt.

Was tun die Sportvereine bisher für den Schutz von Kindern und Jugendlichen?

Sie tun einiges in der Prävention, aber wenig in der Aufarbeitung. Um ein Schutzkonzept wirksam umsetzen zu können, braucht es aber auch das Wissen aus der Vergangenheit, zum Beispiel darüber, welche Strukturen sexuellen Kindesmissbrauch ermöglicht oder begünstigt haben und wieso es möglich war, die Taten zu vertuschen. Sportvereine sind ein Stück weit überfordert mit dem Thema. Es braucht in den Vereinen auch mehr Anlaufstellen für Opfer. Und es kann auch nicht sein, dass verdächtige Trainer einfach den Verein wechseln und dort weitermachen.

Prof. Sabine Andresen, 53, lehrt an der Universität in Frankfurt am Main. Seit 2016 ist sie Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Prof. Sabine Andresen, 53, lehrt an der Universität in Frankfurt am Main. Seit 2016 ist sie Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

© Barbara Dietl

Das dürfte daran liegen, dass den Sportvereinen die ehrenamtlichen Helfer abhandenkommen.

Das stimmt sicherlich. Es fehlt das Personal, und ich möchte nicht mit dem Finger auf die Sportvereine oder die übergeordneten Verbände zeigen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sexuellen Missbrauch aufzuarbeiten und die Präventionsmaßnahmen zu verbessern.

Seit wenigen Wochen läuft der Aufruf Ihrer Kommission an Betroffene, sich zu melden. Wie ist die Rückmeldung?

Bisher haben wir eher wenige Rückmeldungen bekommen. Aber wir hoffen natürlich, dass sich das bald ändern wird und weitere Betroffene den Mut fassen, und sich an uns wenden.

Sie arbeiten nicht mit den Sportorganisationen zusammen. Würde das nicht helfen?

Uns ist wichtig, dass wir unabhängig arbeiten. Wir nehmen aber gerne zur Kenntnis, dass einzelne Verbände in ihren Kanälen über unseren Aufruf an Betroffene informieren.

Können öffentliche bekannte Fälle helfen?

Ganz bestimmt. Das hilft, dass sich auch andere Missbrauchsopfer trauen, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gesehen. Je prominenter die Sportlerin oder der Sportler, desto größer ist bekanntlich die Wirkung. Und so wird sichtbar, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. Für viele Betroffene ist es sehr heilsam, wenn sie erkennen, dass sie nicht die Einzigen sind, denen so etwas geschehen ist und dass sie auch keine Schuld daran tragen.

In Deutschland gibt es aber im Vergleich zu anderen Ländern kaum bekannte Fälle.

Es gibt auch hier öffentlich gewordene Fälle, aber wenige, das stimmt. Das liegt daran, dass sexueller Missbrauch hierzulande stark tabuisiert wird. Und gerade das macht es für die Opfer ja so schwer, darüber zu sprechen.

Ist die Gefahr der Verleumdung groß?

Diese Gefahr gibt es, aber das ist dann Sache einer möglichen strafrechtlichen Untersuchung. Diese Frage finde ich jedoch schwierig, weil Untersuchungen gezeigt haben, dass die Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Betroffenen oft nicht berechtigt waren. Gleichzeitig haben die Zweifel dazu geführt, dass Betroffene schweigen und die Dunkelziffer von Opfern sexuellen Missbrauchs so hoch ist. Betroffene erleben dann häufig dasselbe wie in ihrer Kindheit: Ihnen wird nicht geglaubt, wenn sie versuchen, sich jemandem anzuvertrauen.

Wie konkret können sich Betroffene bei Ihnen melden?

Betroffene, die sich für eine vertrauliche Anhörung anmelden oder einen schriftlichen Bericht einreichen möchten, können sich telefonisch (0800 4030040 – anonym und kostenfrei), per E-Mail oder Brief an die Kommission wenden. Auf unserer Internetseite stellen wir alle Informationen zum Aufruf für Betroffene, Angehörige und andere Zeitzeugen bereit: www.aufarbeitungskommission.de

Das Gespräch führte Martin Einsiedler.

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