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3, 2, 1... „The Rocket“ Ronnie O'Sullivan konzentriert sich auf die Kugeln. Foto: dapd

© dapd

Snooker: Klack, klack, klingeling

Handys unerwünscht: Feine englische Sitten beim Snooker im Tempodrom.

Berlin - Es ist mucksmäuschenstill im Publikum, gebannt starren die Zuschauer im Tempodrom in die Arena. Fünf fast majestätisch wirkende Billardtische stehen dort, an vieren wird gespielt. Wie an der Schnur gezogen läuft eine rote Kugel längs über einen der Tische in die rechte Ecktasche. Anerkennender Beifall brandet auf, dann ist es wieder still. Nur das Klacken und Ploppen der Bälle unterbricht die spannungsvolle Ruhe. Plötzlich klingelt irgendwo ein Mobiltelefon. Reflexartig drehen sich die Zuschauer in Richtung der Geräuschquelle. Einige murren, andere schütteln ungläubig den Kopf. Der Schiedsrichter, der dem Störer am nächsten steht, ermahnt ihn streng und unmissverständlich: „Switch it off!“ Sein Telefon als Zuschauer nicht auszuschalten, kommt hier fast einer Todsünde gleich. Wer es bimmeln lässt, outet sich im Tempodrom sofort als Eventfan.

Snooker heißt die Sportart, die so viel Wert auf gutes Benehmen legt. Es ist eine verschärfte Billardvariante, erfunden von englischen Kolonialoffizieren Ende des 19. Jahrhunderts in Indien. Im Vergleich zum normalen Poolbillard sind die Tische deutlich größer, die Kugeln dafür kleiner. Auch die schmalen, abgerundeten Tascheneinläufe machen das Spiel anspruchsvoll. Ziel ist es, abwechselnd eine der 15 roten und eine der sechs farbigen Kugeln zu versenken – wobei die farbigen Kugeln so lange vom Schiedsrichter wieder auf den Tisch gelegt werden, bis alle roten Kugeln verschwunden sind. Die Regeln erscheinen auf den ersten Blick verwirrend, doch die Besucher, die es an diesem Tag ins Tempodrom verschlagen hat, sind fast ausnahmslos Experten. Sie tragen Kopfhörer, um dem Kommentator des übertragenden Fernsehsenders zuzuhören. Oder sie tauschen ihr Expertenwissen flüsternd untereinander aus.

Mit Kneipensport hat Snooker nichts gemein. Erst recht nicht beim German Masters in Berlin, einem der wichtigsten Turniere auf der Main Tour der Profis. Die komplette Weltelite ist am Start, wobei die Snookerwelt relativ überschaubar ist. Die besten Spieler kommen traditionell aus Großbritannien, und die wenigen anderen leben dort und trainieren mit ihresgleichen. Doch das Publikum im Tempodrom kennt sie alle, egal, ob sie aus Wales, Schottland oder England kommen. Der Superstar des Sports ist Ronnie O’Sullivan. Sein Auftreten ist das einer Diva, seine Lebensgeschichte liest sich wie ein Groschenroman – er hat sie auch schon aufgeschrieben. O’Sullivans Vater saß 18 Jahre wegen Mordes in Haft, Ronnie kämpft seit Jahren mit Depressionen.

Am vergangenen Donnerstag spielt der 36-Jährige aus dem englischen Wordsley sein Erstrundenmatch im Tempodrom. Und liegt schnell 0:4 zurück. Ein Zuschauer ruft aufmunternd „C’mon Ronnie“, andere stimmen ein. Und Ronnie findet tatsächlich zurück ins Spiel, gewinnt am Ende noch mit 5:4. In den Fluren des Tempodroms hoffen die Fans anschließend auf ein Autogramm ihres Idols, doch O’Sullivan lässt sie einfach stehen, verschwindet heimlich durch einen Hinterausgang.

Seine Genialität ist gleichzeitig sein Leiden. Obwohl Rechtshänder, kann er mit links fast genauso gut spielen. Einmal hat er in einem WM-Match in nur 5:20 Minuten den kompletten Tisch abgeräumt und dabei die maximale Punktzahl 147 erreicht. O’Sullivan wird nicht umsonst „The Rocket“ genannt, die Rakete.

Ohnehin gehören Spitznamen zum Snooker wie Fliege und Weste. Weltmeister John Higgins etwa ist der „Wizard of Wishaw“ (Zauberer aus Wishaw), der Weltranglistenerste Mark Selby der „Jester from Leicester“ (Narr aus Leicester) und Mark Williams, German Masters Sieger von 2011, ist schlicht „The Welsh Potting Machine“ (walisische Füllmaschine). In ihrer Heimat sind sie Superstars, die mit ihrem Sport Millionen verdienen. Entsprechend professionell treten sie in Berlin auf. Hier ein Winken ins Publikum, da ein gereckter Daumen nach einem gewonnenen Match – und wenn es besonders gut läuft, wird sogar mal ein Späßchen während des Spiels gemacht. Die Nichtaussagen auf Pressekonferenzen gleichen denen von Fußballstars. Es wird Lob für die Organisatoren verteilt, das Tempodrom als wunderbare Spielstätte hervorgehoben, und die deutschen Fans seien sowieso einmalig.

Tatsächlich sind die Zuschauer aus der ganzen Republik nach Berlin gekommen. Es ist für viele die einzige Möglichkeit, die Stars einmal live zu erleben. Dabei ist das Publikum buntgemischt. Der Snookerfan im Tempodrom ist genauso jung wie rüstig, weiblich wie männlich und schlank wie füllig. Fans tragen „I love Snooker“-Shirts oder erstehen am Merchandise-Stand die Autobiografie von Ronnie O’Sullivan. Die wenigsten spielen selbst, schon gar nicht regelmäßig. Die Faszination von Snooker ergibt sich nicht aus dem Spielen, wie es etwa beim Fußball der Fall ist. Es ist die technische Brillanz, die scheinbare Leichtigkeit, die ein Gelegenheitsspieler nie zu erreichen in der Lage wäre. In Großbritannien überträgt die öffentlich-rechtliche BBC die wichtigen Matches, ein WM-Finale verfolgen schon mal 18 Millionen Menschen an ihren Fernsehgeräten.

In Deutschland ist Snooker hingegen eine Randsportart. Dass ein Weltranglistenturnier wie das German Masters überhaupt hierzulande stattfinden kann, grenzt fast an ein Wunder. Schon einmal, in den neunziger Jahren, hatten sich die damaligen German Open einen Platz im internationalen Turnierkalender erkämpft – allerdings nur für drei Jahre.

2012 ist in Berlin die Dankbarkeit darüber groß, dass die Stars der Szene wieder nach Deutschland gekommen sind. Die Arena wird auch am Sonntag, am Finaltag, wieder gut gefüllt sein. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck wird der Lauf der Kugeln aufmerksam verfolgt werden. Bis wieder irgendwo ein Handy klingelt.

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