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Schön war die Zeit. Das Wunder von Bern verfolgte man noch gesittet im Familienkreise auf dem einzigen

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Sport: So schaut Europa Fußball

Die Auslandsligen starten – und mit ihnen der Wahnsinn. Mit neun Anstoßzeiten in Spanien, mitspielenden Experten in Italien und TV-Wettbüros in der Türkei

SPANIEN

Ein typisch spanischer Sonntag vor dreißig Jahren: Am Morgen besuchte man die Kirche, später wurde zu Mittag gegessen und kaum waren Tapas und Paella in der Siesta verdaut, ging es ab ins Stadion. Jeden Sonntag, pünktlich um 17 Uhr, begannen die Spiele der Primera División. Für diejenigen, die nicht live vor Ort sein konnten, blieb anschließend die Zusammenfassung aller Erstligaspiele im frei empfangbaren Fernsehen.

Aus. Schluss. Vorbei. Spätestens seit die spanische Fußballliga LFP vor dieser Saison die Einführung von neun verschiedenen Anstoßzeiten beschlossen hat, ist der Spieltag endgültig zerstückelt. Was in Deutschland zu wilden Protesten führen würde, nehmen die Spanier gewohnt gelassen. Neun verschiedene Anstoßzeiten bringen nämlich vor allem eines: noch mehr Livefußball. Auch wenn sich der Saisonstart wegen des Streiks wohl um mindestens eine Woche verzögert.

Dass die Spiele dann live fast ausschließlich im Bezahlfernsehen laufen, stört inzwischen niemanden mehr. Das Nörgeln hielt nicht lange vor, dafür sind die Spanier viel zu verrückt nach ihrem Fútbol. Die Zeitungen berichten täglich seitenweise, in den Nachrichten nimmt Fußball oft die Hälfte der Sendezeit ein, und nachts bieten alle möglichen Radiostationen Talksendungen an, in denen über nichts anderes gesprochen wird als über Taktik, Tricks und Tore.

Fußball ist in Spanien seit jeher ein wichtiger sozialer Faktor. Scheinbar jede Bar in jeder Straße ist mit einem Fernsehgerät ausgestattet. Spielt die eigene Lieblingsmannschaft, trifft man sich in der Bodega gleich um die Ecke und verfolgt das Geschehen zusammen bei Bier und Knabbereien. Der Lärm aus den Kneipen dringt auf die Straßen, es ist quasi unmöglich, sich nicht über den Ausgang der Spiele zu informieren. Und für all jene, die doch etwas verpasst haben, laufen rund um die Uhr Wiederholungen und Zusammenfassungen bis weit in die Woche hinein. sst

ENGLAND

England hat bekanntlich nicht nur den Fußball erfunden, sondern auch noch dessen berühmteste Woche – sie heißt praktischerweise englische Woche. Diesen Terminus kennt in England natürlich niemand (english week?), aber er deutet schon mal an, dass es mit den Spielterminen zuweilen ein wenig kompliziert wird. Jedenfalls, was deutsche Maßstäbe angeht. Früher betraf das nur die hierzulande so unbeliebten Dienstag- und Mittwochspieltage, aber da mittlerweile auf der ganzen Welt an jedem Tag gespielt wird, erscheint das kaum noch erwähnenswert. Dafür haben sie zwischen Manchester und London das englische Wochenende erfunden; das heißt, eigentlich geht diese Erfindung auf einen Australier zurück. Rupert Murdoch zahlt den 20 Premier-League-Klubs über seinen Pay-TV-Sender Sky 600 Millionen Euro im Jahr, aber dafür verlangt er auch ein wenig Flexibilität. Wenn es der Quote dient, wird auch schon mal vormittags um halb elf gekickt. Dieses Wochenende gibt es am zweiten Spieltag bei zehn Spielen acht verschiedene Anstoßzeiten. Besonders unbeliebt bei den in den Stadien aktiven Fans sind die Spiele am Sonntagabend um sechs, weil es danach kaum noch möglich ist, am selben Abend zurückzureisen, was für einen rechtzeitigen Arbeitsantritt am Montagmorgen nicht ganz unwichtig ist. Entsprechend gefragt sind die Fernsehübertragungen dieser Spiele. Und entsprechend voll sind die Pubs, weil sich die gewöhnlichen Fans im wirtschaftlich derzeit nicht prosperierenden England das teure Sky-Abo nur im Ausnahmefall leisten können.

Doch so sehr Murdochs Kapital den englischen Fußball im Griff hat – die sportliche Deutungshoheit liegt woanders. Bei Gary Linekers Plauderrunde in der BBC geht es um Fußball, Fußball und nur um Fußball. Es werden weder altkluge Animierfilmchen gezeigt noch strittige Schiedsrichterentscheidungen mit acht Superzeitlupen analysiert. Großartig!gol

ITALIEN

Fußball ist in Italien eine Operation für echte Männer. Vor allem im Süden sieht man schon Freitagabends junge und alte Kerle das Handy zücken und sich fürs Wochenende auf einem Landhaus mit Sky-Decoder verabreden. Frauen werden vornehmlich als Köchinnen und Geschirrabräumerinnen mitgenommen. Männer wie Frauen haben sich damit abgefunden, dass der Bezahlsender das Programm gespreizt und damit das Familienleben weitgehend zerstört hat. Am umstrittensten ist der Termin sonntags um 12.30 Uhr. „So schnell kann man gar nicht saufen, um zum Anpfiff auf Betriebstemperatur zu sein“, klagen Fans auf allen Piazzen.

Für Fernsehgucker ist Sky das Nonplusultra. Der Bezahlsender darf mit den Kameras sogar in die Umkleideräume.

Bei der Auswertung des Spieltages hat allerdings das Staatsfernsehen RAI noch die Nase vorn. Legendär ist „Stadio Sprint“ auf RAI2 sonntags ab 17.05 Uhr. Moderator Enrico Varriale fetzt sich gern vor laufender Kamera mit den Trainern. In seichtere Gewässer führte zuletzt das mehrfach vom Skalpell traktierte Busenwunder Simona Ventura den anderen Klassiker der RAI, „Quelli che il calcio e...“. Allerdings ist sie in der Sommerpause zu Sky abgewandert.

Mit dem höchsten Schrillheitsfaktor wartet „Diretta Stadio“ auf dem Kleinstkanal 7Gold auf. Nur für Sekundenbruchteile sind aktuelle Bilder zu sehen. Zwei Kommentatoren erzählen live vor ihrem Bildschirm, was sich gerade tut. Es spricht immer nur der, dessen Mannschaft in Ballbesitz ist. Gewöhnlich reißt die Leidenschaft beide Kommentatoren so mit, dass sie sich gegenseitig ins Wort grätschen. Gelungene Angriffe, dramatische Rettungstaten und rüde Fouls werden unter Aufbietung aller pantomimischen Fähigkeiten nachgespielt. Und manchmal taucht sogar der alte Schiedsrichterbestecher Luciano Moggi im Studio auf und seziert genüsslich, was Referees, Trainer und Spieler mal wieder alles falsch machen. „Diretta Stadio“ hat zwar nur einen winzigen Marktanteil, ist aber die ultimative Plattform für Freaks. tom

SCHWEDEN

„Fast noch mehr als den eigenen Fußball guckt man sich die englische Liga an“, sagt Sportredakteur Ulf Anderson von der Boulevardzeitung „Kvällsposten“. Schon seit Anfang der 70er Jahre strahlt das öffentlich-rechtliche Fernsehen Spiele der englischen Liga aus. Heilig ist hier der Samstagnachmittag: Um 16 Uhr wird über die Premier League berichtet. „Jüngere Schweden“, berichtet Anderson, „schauen sich auch gern die spanische Liga an, mit Barcelona im Fokus, und eine kleine, eingeschworene Gruppe lässt sich kein Spiel aus Italien entgehen.“ Vor allem der Kultstatus von Zlatan Ibrahimovic hat dazu beigetragen. anw

RUSSLAND

Auch hier ist am Wochenende die Premier League heilig – jedoch russische. Da das Pay-TV die Rechte im Griff hat, treffen sich die jungen Russen in Sportbars, um zu trinken und die Spiele auf Flachbildschirmen zu verfolgen – was teuer werden kann. Bis zu 25 Euro kostet es, sich einen Tisch zu sichern. nia

TÜRKEI

Wenn der jüngste Manipulationsskandal aufgeklärt ist und die Süper Lig im September beginnt, werden die Bars wieder voll. Vor allem abends, wenn die Istanbuler Großklubs spielen. Danach geht es erst richtig los: Jeder Sender hat eine eigene Diskutiersendung, vom Lokalsender bis hin zum Vereins-TV. Mit wenig Bildmaterial, dafür mit umso mehr Haarspaltereien im Straßenjargon. Aber alles ohne Showelemente und Bauchtanz. „Fußball ist ernst, wie Religion und Politik “, sagt der deutsch-türkische Theater-Regisseur Neco Celik. Ausnahme: Auf Star TV präsentiert sich Fußball als Wettbüro – auch die aktuellen Quoten werden hier besprochen. dob

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