zum Hauptinhalt
Aus Walkern werden auch oft Läufer.

© Imago

So läuft es: Ehret den Anfänger

Lange kam unserem Kolumnisten auf seinen Laufrunden ein übergewichtiger Walker entgegen. Viele belächelten ihn, dabei sollten wir jedem Beifall spenden, der sich auf den Weg macht.

Seit einem Jahr kommt mir oft ein Mann entgegen. Klassisches Alter. Gerade in oder gerade raus aus der Midlife Crisis. Er erinnert mich an mich selbst vor fünf Jahren. Ein beinahe erschreckendes Spiegelbild. Hipsterbart, immer einen top angesagten Jogginganzug, nie schmutzig. Immer riecht er nach teurem Eau de Toilette, er trägt die klassische Flieger-Sonnenbrille und riesige Kopfhörer. Bisher ging er immer. Mal mit Hund, mal mit Frau und Hund. Er war lange viel zu schwer. Dafür aber sehr hipster. Beinahe alle Läufer belächelten ihn. Diese dünnen Marathonfrauen und -männer. Ein recht arrogantes Mitleidslächeln hatten sie für ihn übrig. Und er? Ging einfach weiter. Und grüßte freundlich. Er zog durch. Weil er ein klares Ziel hatte. Ich erahnte sein Vorhaben. Ich belächelte ihn nie. Ich lächelte ihn an. Denn ich sah stets mich selbst. Wie es mir vor fünf Jahren ergangen war. Dieser Mann war ein Spiegelbild für mich. Und ich war für ihn sicher nicht mehr als der grüßende Läufer. Immerhin.

Er wartete geduldig auf ein Zeichen seines Körpers

Vor ein paar Tagen ist mir der Hipster-Walker wieder begegnet. Er hat über die Zeit enorm an Gewicht verloren. Einfach nur durch das Gehen. Mit Piloten-Sonnenbrille und riesigen Kopfhörern kam er mir wieder entgegen. Er roch ordentlich nach Läuferschweiß, sein Hipsterbart tropfte, der Jogginganzug war klatschnass. Er ging nicht mehr. Der Hipster-Walker war plötzlich zum Läufer geworden. Der Mann lief. Langsam, dem Gewicht entsprechend, aber er lief. Und zwar mit einem blitzsauberen Laufstil. Er erinnerte ein wenig an einen Schmetterling, der langsam und umständlich aus dem Kokon klettert. Und plötzlich eine andere Form und Haltung annimmt. Und der Hipster-Runner strahlte als er mich sah. Stolz, glücklich, fertig, aber unfassbar zufrieden. Ich setzte meine riesigen Kopfhörer ab. Er seine. Wir klatschten uns ab, die Schweißpfütze zwischen unseren Händen spritzte. Ich zollte ihm den allergrößten Respekt. Und beglückwünschte ihn zu einem Jahr des Durchhaltens. Zu seiner Entwicklung, zu seiner Verwandlung.

An diesem Tag lief er tatsächlich das erste Mal. Er lief acht Kilometer. Genau vor einem Jahr war er von einem Krebsleiden geheilt worden, erzählte er mir. Und er hatte sich vorgenommen, dem Krebs davonzulaufen und zu sich hin zu laufen. Um seinen Körper wieder zu spüren, um sich frei zu laufen. Er hörte täglich auf seinen Körper, der ihm das Zeichen gab, zunächst einfach zu gehen. Und er wartete geduldig bis er das Signal bekam, endlich laufen zu können. Und dann lief er. Eben an diesem Tag.

Wir kennen die Geschichte all derer nicht, die uns erfahrenen Läufern auf unseren Wegen begegnen. Wir wissen nicht, warum Menschen einfach nur walken. Wir kennen die Gründe nicht, warum Läufer Gehpausen machen. Ordentlichen und aufrichtigen Läufern sei gesagt: Spenden wir einfach Beifall, dem der sich auf den Weg macht. Schenken wir ein ehrliches Lächeln, dem der uns begegnet. Sagen wir es laut, wenn wir fühlen, dass wir etwas sagen wollen. Laut! So läuft es.

Mike Kleiß leitet eine Kommunikations- und Markenagentur in Köln und schreibt hier an jedem Donnerstag übers Laufen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false