zum Hauptinhalt

Sport: Standhaft im Perpetuum Mobile

Von Stefan Hermanns Seoul. Thomas Linke ließ sich auch von einem letzten Angriff nicht aus der Fassung bringen.

Von Stefan Hermanns

Seoul. Thomas Linke ließ sich auch von einem letzten Angriff nicht aus der Fassung bringen. Acht Minuten vor Ablauf der festgelegten Zeit beendete der Bewohner des Nebenraums die vereinbarte Ruhepause. Der Radetzkymarsch in Disco-Lautstärke drang von draußen in den großen Konferenzsaal des Sheraton-Hotels auf dem Walker Hill in Seoul, wo der Deutsche Fußball-Bund seine tägliche Pressekonferenz abhält. Doch Linke, der Verteidiger vom FC Bayern München, redete einfach weiter. Linke lässt sich in diesen Tagen und Wochen nicht so schnell aus der Ruhe bringen.

Es ist erst ein paar Wochen her, da hat der 32-Jährige verkündet, dass er nach dem WM-Turnier vermutlich seine Nationalmannschaftskarriere beenden werde. Es sei denn, Deutschland werde Weltmeister. In diesem Fall wolle er noch zwei Jahre weitermachen. Unwahrscheinlich war das. „Die Situation hat sich ein bisschen gewandelt“, sagt Linke nun. Deutschland steht im Finale, und „Thomas Linke hat eine überragende Weltmeisterschaft gespielt“, sagt Karl-Heinz Rummenigge, der Vereinschef des FC Bayern München. Vor zwei Jahren, als der deutsche Fußball am Boden zu liegen schien, hieß es noch: Thomas Linke hat eine katastrophale Europameisterschaft gespielt. Im letzten Gruppenspiel gegen Portugal verlor die Nationalmannschaft 0:3, und Linkes Gegenspieler Conceicao hatte alle drei Tore erzielt. Wenn die Nationalspieler anschließend zu Rumpelfüßlern ernannt wurden, dann war Linke der Häuptling der Rumpelfüßler. Jetzt aber ist Linke eine der Hauptfiguren der erfolgreichsten Abwehr dieses Turniers. In sechs Spielen hat die deutsche Nationalelf erst ein Gegentor kassiert. Eine derartige Bilanz hat seit den Holländern 1974 kein WM-Finalist mehr vorweisen können.

Als Einziger aus Deutschlands erfolgreicher Verteidigung hat Linke bei diesem WM-Turnier noch keine Minute verpasst. Dennoch gilt er nicht als Abwehrchef. Das ist ja das Seltsame an diesem undurchdringlichen Gebilde, dass es keine feste Formation besitzt. Seit dem letzten Vorrundenspiel gegen Kamerun haben die Deutschen in vier Spielen mit sechs verschiedenen Abwehrreihen gespielt, mal mit Vierer-, mal mit Dreierkette und das auch noch in wechselnder Besetzung. Die einzigen Konstanten sind Linke und natürlich Torhüter Oliver Kahn.

Der Erfolg des Perpetuum Mobile ns deutsche Abwehr ist umso erstaunlicher, als „wir fast die komplette Defensive verloren haben“, wie Teamchef Rudi Völler sagt. Jens Nowotny, der eigentliche Lenker der Verteidigungsmaßnahmen, fehlt, Christian Wörns fehlt. Und eigentlich fehlt auch noch Marko Rehmer, der zwar im WM-Kader steht, jedoch nach seiner schweren Verletzung im Kreis der Nationalmannschaft lediglich ein besseres Aufbauprogramm bestreitet. Die meisten deutschen Verteidiger spielen hier auf Positionen, die sie aus ihrer Vereinsmannschaft nur vom Sehen kennen. Dass sie unter dieser Voraussetzung bisher lediglich vom Iren Robbie Keane bezwungen werden konnten, „das war so nicht zu erwarten“, sagt der Teamchef. Herumgesprochen hat sich die neue Entwicklung offensichtlich auch noch nicht. Vor den beiden Halbfinalspielen hat der Weltfußballverband Fifa die Liste jener Spieler veröffentlicht, aus denen am Freitag das All-Star-Team des Turniers bestimmt werden soll. Unter den Verteidigern findet sich kein einziger Deutscher. Aber wichtiger als der einzelne Spieler ist in Völlers System ohnehin das Kollektiv: „Wir haben das Optimale herausgeholt.“

Seine personellen und taktischen Maßnahmen in der Abwehr hinterließen manchmal den Eindruck konzeptionellen Wankelmuts, aber spätestens die Partie gegen Südkorea hat gezeigt, dass Völler mit seiner Maßnahme der flexiblen Antwort auf das Auftreten des Gegners richtig gelegen hat: Die Viererkette funktionierte gegen Kamerun, weil der Gegner mit aller Macht stürmte, sie funktionierte nicht gegen Paraguay, weil vier Verteidiger gegen anderthalb Angreifer unterbeschäftigt waren. Dafür erwies sie sich gegen die mit drei Stürmern angreifenden Koreaner wieder als richtig. Die gute Abwehr ist jedoch nur vordergründig ein Erfolg der drei/vier Verteidiger plus Torwart. Thomas Linke sagt, „dass es an der gesamten Mannschaft liegt". Bei den Testspielen war die deutsche Abwehr noch als Schwachstelle ausgemacht worden. „Alle wollten nach vorne und Tore schießen“, sagt Linke. Er braucht das jetzt nicht mehr. Gegen Saudi-Arabien hat Thomas Linke sein erstes Länderspieltor erzielt.

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false