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Sport: Stark geschaukelt

Boy holt Turn-Silber und steht heute im Reck-Finale

Davor warnt Andreas Hirsch immer. Ein Fehler sei ja so schnell passiert, sagt der Cheftrainer der deutschen Turner. Auch am letzten Gerät noch. Gerade am letzten Gerät. Und wenn es dann noch um eine Medaille geht, da lägen die Nerven eben blank. So geschah es also. Im Mehrkampffinale der Turn-Weltmeisterschaft in Rotterdam fasste Philipp Boy am Reck daneben. Er wackelte ein bisschen, das Publikum ächzte. Da habe er gedacht, „jetzt habe ich mir alles versaut“, erzählt Boy später. Hatte er aber nicht. Seine Übung war trotzdem noch gut genug für eine Sensation: Boy gewann die Silbermedaille im Mehrkampf. Und am heutigen Sonntag könnte Boy sogar noch einen draufsetzen: Gemeinsam mit Fabian Hambüchen steht er im Reck-Finale (ab 16 Uhr live im ZDF).

Besser als Boy war am Freitagabend nur der Titelverteidiger Kohei Uchimura aus Japan, der Boy bei der Siegerehrung langanhaltenden Applaus spendete. Mit einer spielerisch wirkenden Leichtigkeit absolvierte er eine Übung nach der anderen. Der Lohn: 92,331 Punkte. Der Cottbuser Boy erhielt 90,048 Zähler, Dritter wurde der Amerikaner Jonathan Horton (89,864). Boy war anschließend sogar zu müde, um ausgelassen zu jubeln.

Und Andreas Hirsch, der ewige Skeptiker, der Trainer, der seine Sportler immer so schnell wie möglich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt, erlaubte sich ein für seine Verhältnisse fast überschwängliches Lob. „Wenn das einer verdient hat, dann Boy“, sagte er. Denn dieser hatte bis zur alles entscheidenden Reckübung eine schier unmenschlich scheinende Energieleistung vollbracht. Erst am Donnerstagabend hatte er der deutschen Mannschaft mit einem fast perfekten Sechskampf zu Bronze im Teamfinale verholfen. Er sammelte 92,231 Punkte. Zwei Tage zuvor war er in der Qualifikation auf 90,156 Zähler gekommen. Das Mehrkampffinale war also sein dritter Sechskampf innerhalb von vier Tagen. Keiner der anderen Turner mutete sich das zu, auch Uchimura nicht.

Aber Boy wollte die Medaille so sehr. Im Mehrkampffinale habe er am Reck seine letzten Kräfte mobilisiert: „Ich wollte diese Übung durchturnen, und wenn ich mit dem Reck vom Podium runtergegangen wäre.“ Er ließ trotz des Fehlers nicht los. Er machte weiter. Flog in den Stand. Und holte Silber.

Das Ziel der deutschen Turner war eigentlich nur, sich in Rotterdam mit einem Finalplatz für die WM im kommenden Jahr in Tokio zu qualifizieren und so alle Chancen auf die Olympiatickets für die Mannschaft zu wahren. Das hatte die Riege des Deutschen Turner-Bundes mit Platz fünf in der Qualifikation locker geschafft. Eine Medaille im Finale schien diesmal nicht erreichbar, da mit Marcel Nguyen (München) der deutsche Mehrkampfmeister mit einem Schienenbeinbruch fehlte, und Fabian Hambüchen (Wetzlar) wegen einer noch nicht ganz verheilten Fußverletzung nicht am Boden und beim Sprung antreten konnte.

Aber die Zeiten, als alles auf wenigen Schultern lastete, gehen vorbei. Hambüchen ist vielleicht noch immer die größte Stütze des deutschen Teams, aber sicher kein alles tragender Pfeiler mehr. In Rotterdam sammelten andere Punkte. Allen voran Boy, aber auch Matthias Fahrig, Eugen Spiridonow, Thomas Taranu und Sebastian Krimmer.

„Wir haben Spaß, wir schaukeln uns gegenseitig hoch und wenn das dabei raus kommt, ist es einfach geil“, sagte Philipp Boy. Jetzt hat er auch noch Mehrkampf-Silber – und am Sonntag im Reckfinale die Chance auf eine weitere Medaille. Dort trifft Boy auf Hambüchen. Und wieder werden die Nerven blank liegen.

Henrike Petersen[Rotterdam]

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